Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
sich die Glocke seiner Sorgen wieder über ihn gestülpt, und Bertram war verwirrt aus der Cafeteria zur Straßenbahnhaltestelle gelaufen.
Aus dem Schlafzimmer, wo seine Stereoanlage neben dem Bett stand, schallte Miles Davis’ »Kind of Blue« herüber. Bertram hörte Jazz, seit er zwölf Jahre alt war. Modalen Jazz. Bebop. Hardbop, das ganze Programm. Bis hin zu Sachen von Bert Kaempfert, Billy Strayhorn oder Tommy Dorsey. Doch seine Helden waren Jimmy Smith, Oscar Peterson und Charles Mingus. Smiths Hammondorgelspiel war der Grund gewesen, weshalb er eines Tages den Wunsch in sich verspürt hatte, Klavier zu spielen.
Sein Vater, der allen voran John Coltrane mochte, hatte ihm den Jazz nähergebracht, damals. Er hatte ihm Oscar Petersons Album »Exclusively for my Friends« geschenkt, und seither zog Bertram sich regelmäßig in Petersons Klangwelt zurück, wenn er Ruhe vor dem Terror der Schule oder später Inspiration für das Schreiben seiner ersten Radiobeiträge gesucht hatte.
Als Neunjähriger hatte er Elvis und Jerry Lee Lewis gehört. Doch verglichen mit Petersons »Like Someone in Love« oder»Love Is Here to Stay« erschien ihm ein Stück wie »Suspicious Minds« von Elvis inzwischen ziemlich blass. Obgleich es lange die Hymne seiner Gefangenschaft in Hirschhorn gewesen war.
Den Berechnungen der Frauenärztin vertrauend, waren sie davon ausgegangen, erst Mitte Dezember Eltern zu werden. Und noch an besagtem Abend – sie waren gemeinsam im Kino gewesen und hatten sich »Eine verhängnisvolle Affäre« mit Glenn Close und Michael Douglas angesehen – hatte nichts darauf hingedeutet, dass sie in Kürze Eltern eines Frühchens sein würden.
Sie waren aus dem Kino gekommen und auf dem Weg in eine Kneipe in der Venloer Straße gewesen, als Amina plötzlich stehen blieb, sich an den Bauch fasste und rief: »O Gott, Thomas! Was ist das?«
Und da hatte er auch schon sehen können, wie stoßartig eine im Schein der Laternen dunkel schimmernde Flüssigkeit zwischen ihren nackten Beinen hervorschoss und unter ihr eine Lache auf dem Bordstein bildete.
»Die Fruchtblase!«, rief er und starrte sie ungläubig an. »Ich glaube, gerade ist deine Fruchtblase geplatzt!«
»Oh, mein Gott!« Amina blickte mit vor den Bauch gepressten Händen erschrocken an sich herunter, während Bertram bereits zu dem Taxistand an der Ecke lief, wo eine Handvoll Wagen mit eingeschalteten Leuchtschriften standen.
Als sie im Taxi saßen, erklärte Thomas dem Fahrer, was passiert war, und bat ihn, so schnell wie möglich das nächstgelegene Kinderkrankenhaus anzusteuern und über ihr Kommen zu informieren. Bis zu ihrem Eintreffen in der Amsterdamer Straße hielt er Aminas Hand. Leise stöhnend und mit nach hinten gegen die Kopfstütze gelegtem Kopf hielt sie die Augen geschlossen.
Im Krankenhaus wurde Amina von zwei Schwestern in Empfang genommen, auf eine Trage gelegt und weggebracht. Bertramblieb allein in dem hell erleuchteten Vorraum zurück. Bis man ihn – er hatte irgendwann aufgehört, auf seine Uhr zu sehen, und war immerzu den kleinen Gang auf und ab gelaufen – zu ihr ließ. In ihrem Bett liegend, sah sie ihn ermattet an und hauchte, mehr als dass sie es sagte: »Wir haben einen Sohn, Thomas! Ich will, dass er Paul heißt!«
Er hatte ein paar Sekunden lang mit den Tränen gekämpft, dann ein schiefes Lächeln aufgesetzt und sie lange wortlos umarmt. Bis sie ihn wieder wegschickte, weil sie müde war und versuchen wollte, ein bisschen zu schlafen nach all der Aufregung. Er ging zu seinem Sohn, einem 36 Zentimeter langen und gerade mal 652 Gramm schweren Wesen, mehrfach verkabelt und in einen aquariumähnlichen Glaskasten verbannt.
Bertram ließ seinen Blick lange auf dem reglosen, von dem blauen Tuch bedeckten kleinen Körper ruhen. Bis dieser sich, von einem Nervenimpuls dazu veranlasst, plötzlich bewegte und er fasziniert dachte: »Er lebt. Mein Sohn lebt.«
Das lag über zehn Stunden zurück. Thomas Bertram legte den Rasierer auf den Beckenrand und wusch sich unter laufendem Wasser die letzten Schaumreste aus dem Gesicht. Nachdem er sich geduscht und frische Kleider angezogen hatte, setzte er in der Küche die Espressokanne auf und nahm die letzte saubere Tasse aus dem Schrank.
Ja, seit ein paar Stunden war er Vater, und hoffentlich auch noch in ein paar Jahren, sofern der Kleine durchhielt. Doch er hatte deswegen nicht aufgehört, Journalist zu sein. Und so griff er, untermalt vom Zischen der Espressokanne, zum
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