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Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Titel: Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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enttäuscht war, dass er und nicht Lenny neben ihr lag.
    »Heute ist es so weit«, sagte Chris und setzte sich auf den Platz ihm gegenüber. Lenny nahm die Zeitung herunter, senkteden Kopf, schob die Sonnenbrille ein Stück auf die Nasenspitze und sah sie über die Ränder hinweg prüfend an.
    »Was?«
    »Heute steige ich das erste Mal seit vier Monaten wieder in mein Taxi.«
    »Aha«, sagte Lenny und nahm die Brille ab. »Magst ’n Kaffee?«
    Er faltete die Zeitung, schob sie beiseite, erhob sich und trat neben sie. Dann legte er ihr seine große, kräftige Hand auf die Schulter und sagte: »Schön, dich zu sehen, Chris. Wirklich!«
    Noch immer lag seine Hand auf ihrer Schulter. Und weil sie nicht wusste, was sie tun sollte, griff sie sich aus Verlegenheit ins Haar. »Einen Milchkaffee!«
    »Kommt sofort!« Lenny setzte die Sonnenbrille wieder auf und verschwand im Innern des Cafés.
    Sie hatte mit Gabriele, ihrer Chefin, verabredet, am 17. erstmals wieder die Spätschicht zu fahren und sich den Wagen gegen 14 Uhr in der Zentrale abzuholen. Bis dahin blieben ihr noch über drei Stunden. Vorher wollte sie noch bei ihrer Freundin Ulrike vorbeischauen, die ebenfalls Taxi fuhr, aber wegen ihres wenige Monate zuvor auf die Welt gekommenen Kindes pausierte.
    Chris griff nach dem Weser Kurier und überflog die Schlagzeile: »Geiseldrama: Die Polizei muss handeln.« Im Text darunter hieß es, die Gangster seien am Vorabend in einem von der Polizei bereitgestellten Fluchtwagen gemeinsam mit den beiden Geiseln, einer Frau und einem Mann, in Richtung Norden losgefahren. Dabei hätten sie insgesamt 420 000 DM erbeutet.
    »Unangenehme Geschichte, was?« Lenny stellte den Milchkaffee, den ein mit Schokopulver bestreutes welliges Milchschaumkissen zierte, vor Chris auf den Tisch. Auf den Rand des Untertellers hatte er eine knapp unterhalb der Blüte abgeschnittene dunkelrote Rose gelegt. »Und jetzt kommen die Typen auch noch hierher, hab’s gerade im Radio gehört«, sagte er.
    Chris tauchte ihre Nasenspitze in die herb duftende Blüte und schloss für ein paar Sekunden die Augen. Dann legte sie den Kopf in den Nacken, blinzelte Lenny an und sagte, angestrengt lächelnd: »An was denkst du?«
    »An dich!«, antwortete er und legte wieder seine Hand auf ihre Schulter.
    »Ach komm, du kennst mich doch gar nicht«, sagte Chris, »ich meine, so richtig.«
    »Dann wird es ja höchste Zeit!«, sagte Lenny, lachte sein breites, verschwenderisches Lachen und verschwand im Innern seines Cafés.
    »Ja«, sagte sie leise, »ja, vielleicht.«
    Dann legte sie, von einer plötzlichen inneren Unruhe gepackt, hastig drei Markstücke neben ihren unberührten Kaffee und lief mit der Blüte in der einen und ihrer Tasche in der anderen Hand über den Marktplatz hinüber zum nahen Dom. Dort eilte sie die Steinstufen hinauf, stieß die linke der beiden dunklen Türen auf und setzte sich auf eine der kühlen Bänke.
    In der Stille des weitläufigen Korridors fühlte sie sich wie ein Fisch, der, an Land geworfen und zum Ersticken verurteilt, zurück in der rettenden Tiefe wieder Luft bekam.
    ***
    Thomas Bertram stand vor dem Badezimmerspiegel seines Kölner Zweizimmerapartments in der Brabanter Straße im Belgischen Viertel und kratzte sich mit einem gelben Plastik-Einmalrasierer die vom weißen Schaum bedeckten Stoppeln aus den Mundwinkeln.
    Kurz nach neun hatte er völlig übermüdet die Neonatologie des Kinderkrankenhauses an der Amsterdamer Straße verlassen und war mit der Straßenbahn nach Hause gefahren, um sich zu duschen, die Kleider zu wechseln und sich in der Redaktion zu melden. Außerdem musste er seine Eltern in Hirschhorn anrufenund ihnen mitteilen, dass sie Großeltern eines Jungen geworden waren. Vor Aufregung hatte er das bisher völlig vergessen.
    Kurz bevor er das Krankenhaus verließ, hatte er in der Cafeteria hastig eine Tasse Kaffee getrunken und war für ein paar Sekunden in die Wirklichkeit zurückgeholt worden, als er mit anhörte, wie sich zwei in Bademänteln vor ihm in der Warteschlange stehende Männer darüber unterhielten, dass irgendwo eine Geiselnahme im Gange war.
    »Abknallen sollte man Typen, die so was machen«, hatte der eine getönt, sich geräuspert und hinzugefügt: »Na, ist doch wahr. Oder was meinen Sie?« Doch der andere, der offenbar bemerkt hatte, dass Bertram ihren kleinen Dialog belauschte, hatte nur verlegen und mit gesenktem Haupt in seinem Portemonnaie gewühlt, das er in der Hand hielt. Dann hatte

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