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Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Titel: Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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Telefonhörer und rief in der Redaktion an.
    »Schön, dass Sie sich melden«, sagte die Redaktionssekretärin Susanne, die, statt zu arbeiten, die meiste Zeit »Summer Games«, »Pacman« oder »Giana Sisters« an ihrem PC spielte. Nachdem er ihr von Pauls vorzeitiger Geburt erzählt hatte, gratulierte sie ihm überschwänglich zu seiner Vaterschaft. Und dann sagte sie:»Gut, dass Sie anrufen, Herr Bertram, Maibach hat schon nach Ihnen gefragt.«
    Anfangs hatte Maibach Bertram konsequent aus redaktionellen Abläufen herausgehalten und ihn stattdessen tagelang die redaktionseigene Küche aufräumen und massenweise die leeren Mumm-Flaschen entsorgen lassen. Bis Maibach eines Tages infolge einer Grippewelle die Mitstreiter ausgegangen waren und er Bertram auf seinen ersten Dreh nach Essen schickte, wo in der Grugahalle die »Teddybärbörse« stattfand, eine aberwitzige Sammlerbörse, auf der sich, das war damals Bertrams Eindruck gewesen, hauptsächlich Freaks herumtrieben. Anschließend durfte er einen Bericht über einen jungen Türken drehen, der seinen Sohn Saddam Hussein hatte taufen lassen. Und zuletzt war er in ein Heim für Schwererziehbare in der Nähe von Dormagen geschickt worden, wo ein Junge seine Freundin mit einem Messer erstochen hatte.
    »Ach, ja?«, sagte Bertram, nahm die brodelnde, einen herrlich würzigen Kaffeeduft verströmende Espressokanne vom Herd und goss die ölige Soße in die Tasse.
    »Ja, er ist zwar jetzt in einer Sitzung. Aber so gegen halb zwölf müsste er wieder da sein. Wenn Sie bis dahin hier sein könnten, wäre das großartig.«
    »Okay«, sagte Thomas Bertram und warf einen Blick auf seine Citizen, sie zeigte 10 Uhr 49. »Ich bin um halb zwölf da!«
    Nachdem er seinen Kaffee getrunken und wegen der neuerlich zu erwartenden Hitze vor sämtlichen Fenstern die Rollos heruntergelassen hatte, nahm er seine Aktentasche und verließ die Wohnung in Richtung Friesenplatz.
    ***
    Pauls Körpertemperatur schwankte auffällig zwischen Untertemperatur (Hypothermie) und Fieber (Hyperthermie). Ein Zeichen für eine Infektion, denn seine Hautfarbe wechselte innerhalb vonMinuten von Grau zu Blau marmoriert bis hin zu Graugelb. Zudem legte er immer wieder unnatürliche Atempausen ein, spuckte und erbrach sich.
    ***
    In ihren Schläfen rumorte ein dumpfer Schmerz, und Brigitte überlegte angestrengt, wo sie das Aspirin hingetan hatte. Als sie es zwei Tage zuvor in der Schublade ihres Badezimmerschränkchens suchte, in der es sich eigentlich befinden sollte, hatte sie jedenfalls kein Glück gehabt. Und auch nicht beim Durchstöbern der Küchenschublade, neben dem Besteckkasten, wo sie schon mal etwas deponierte, wenn sie gerade nicht wusste, wohin damit. Was sie stattdessen zu ihrem großen Erstaunen darin fand, war ein ungeöffneter Brief von Martin.
    Martin war seit sechs Jahren tot, und nachdem sie wieder halbwegs klar denken konnte, hatte sie eines Morgens all seine Sachen (auch die Briefe, die er ihr in den elf Jahren, die sie sich kannten, aus den unterschiedlichsten Krisenregionen geschrieben hatte) in Kisten verpackt, in den Keller gebracht und in eines der Regale gestellt.
    Sie hatte barfuß in der Küche gestanden, ein Messer aus dem Besteckkasten genommen und den Brief vorsichtig geöffnet. Dabei war ein Schwarzweißfoto herausgerutscht und auf den Boden gefallen, das Bild eines dunkelhäutigen Jungen, der ein Palästinensertuch, eine Kufiya, um den Kopf geschlungen, ein Sturmgewehr im Anschlag hatte und entschlossen in die Kamera zielte. Im Hintergrund waren zwei weitere Jungen zu sehen, die, auf dem steinigen Boden sitzend, ebenfalls Gewehre im Anschlag hielten. Als sie das Bild nach längerem ungläubigem Betrachten umdrehte, stand auf der Rückseite in Martins nachlässiger, sich leicht nach rechts neigenden Handschrift: »Sharif, elf Jahre alt / Ein el-Hilweh.«
    In dem in Beirut aufgegebenen Umschlag steckte ein einmal inder Mitte gefaltetes kariertes Blatt Papier, dessen Kopf die Anschrift des Hotels Concorde zierte. Sie zögerte kurz, klappte den Zettel auf und begann zu lesen. Es war, als sei nichts vorbei, als hätte die Zeit einen Sprung zurück gemacht und als hätte es die sechs Jahre ohne Martin nie gegeben.

    Liebste Brigitte,
    die Schönheit hier hat etwas Schmerzhaftes, sie legt einen goldenen Schleier über den Irrsinn, der einen verrückt werden lässt.
    Wir sind vorgestern mit dem Wagen nach Ein el-Hilweh gefahren, in eines der größten Flüchtlingslager im Libanon,

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