Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
immer die Liebste geblieben. Auch wenn Martin, der die Baum nicht mochte und für zweitklassig hielt, ihr immer mal wieder Bücher von Céline oder Faulkner und zuletzt einem Amerikaner namens Nelson Algren hingelegt hatte. Doch Algrens Roman, an dessen Titel sie sich nicht einmal mehr erinnerte, hatte sie, ähnlich wie all die anderen, die er ihr empfahl, nur kurz angelesen, den Klappentext überflogen, zugeschlagen und ihm zurück auf seinen Schreibtisch gelegt. Was kümmerte sie ein amerikanischer Berufskartenspieler,der im betrunkenen Zustand einen Autounfall verursacht und dabei seine Frau zum Krüppel gefahren hatte?
Was sie von der Literatur erwartete, waren Trost und Ausblick. Erbauung, etwas Positives! Und nicht die Beschreibung eines wie auch immer gearteten Chaos, das sie selbst jeden Tag aufs Neue mit kleinen Tricks auf Distanz zu halten suchte. Wenn sie Chaos wollte, brauchte sie bloß in den nächsten Supermarkt zu laufen und sich das Getümmel an der Kasse anzusehen. Da konnte man aus nächster Nähe erleben, wie Menschen plötzlich zu Bestien wurden, bloß weil sich ein anderer vordrängelte.
Brigitte hatte nie verstanden, weshalb Martin es immer neu darauf anlegte, in irgendein fernes Krisengebiet geschickt zu werden, um über Kämpfe und Gräueltaten zu berichten, die irgendwelchen pseudopolitischen Zielen geschuldet waren und doch zu nichts anderem führten als zu weiteren Kämpfen und neuen Gräueltaten. Was, bitte schön, war daran heldenhaft, wenn man unter Einsatz seines Lebens einem Diktator das Mikrophon hinstreckte, um seine Lügen aufzunehmen und anschließend in gedruckter Form der Welt zu offenbaren? Oder wenn man zwischen einschlagenden Granaten herumirrte und Fotos schoss, auf denen sterbende Kinder im Moment ihres Todes zu sehen waren? Was war es nur, was ihn immer wieder dorthin trieb?
Sie wollte das alles nicht mehr hören und sehen. Nicht auf der Straße oder in der Apotheke, in der sie ihr Aspirin kaufte. Nicht in der Zeitung und auch nicht im Fernsehen. Am Ende las sie nicht einmal mehr seine Artikel, die in ihren Augen doch nur das Schlimme abbildeten, das Unabänderliche, statt etwas aufzuzeigen, an das zu glauben und für das zu hoffen sich lohnte. Dagegen empfand sie die Welt, in die sie eintrat, wenn sie über Mireille schrieb, als einen Raum, in dem sie noch die Fäden in der Hand hielt und in der die »Frontverläufe«, anders als in Martins Reportagen, so nannte er das, Frontverläufe, noch klar erkennbar waren.
Irgendwann hatte sie Martins offenbar unstillbare Sucht nach Adrenalin und dem, was er »die Wahrheit« nannte, nicht mehr ausgehalten und sich geschworen, Gesprächen über seine Arbeit, die regelmäßig im Streit endeten, konsequent aus dem Weg zu gehen.
Wenn Martin von einer Reise zurückkehrte, schmal geworden, mit eingefallenen Wangen und von der Sonne verbrannter Haut, dauerte es Tage, bis sie meinte, ihn wiederzuerkennen.
Unmittelbar nach seinem Tod hatte sie ein paarmal das Gefühl gehabt, den Verstand zu verlieren. Einmal stand sie im Supermarkt vor dem geöffneten Tiefkühlfach und versuchte eine Pizza herauszunehmen. Doch aus irgendeinem Grund ließ sich die Schachtel nicht herausnehmen, wahrscheinlich war sie an einer anderen Packung festgefroren oder hatte sich in dem engen Fach einfach nur verkantet. Den eisigen Lufthauch im Gesicht, zog und zerrte sie immer heftiger, bis ihre Finger an der vereisten Packung abglitten und sie das Gleichgewicht verlor und schreiend rückwärts gegen eine mit Ferrero-Küsschen- und Mon-Chérie-Packungen beladene Palette stürzte. Als der Marktleiter herbeigelaufen kam und ihr aufhalf, hatte sie ihn verwirrt angesehen und auf die Frage, ob mit ihr alles in Ordnung sei, geantwortet: »Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten.« Sie hatte sich aufgerappelt und war kopflos aus dem Markt geflohen.
Ein andermal hatte sie sich bei dem Versuch, eine Disk aus dem aus irgendeinem Grund blockierten Fach ihres CD-Spielers herauszunehmen, so lange erfolglos daran zu schaffen gemacht, bis sie die Geduld verlor und den mit anderen Geräten verkabelten Player in ihrer Wut dermaßen unkontrolliert aus dem Fach des Hi-Fi-Turms herausriss, dass er mit einem Knall auf den Boden fiel und ein zweimarkstückgroßes Loch in das Fischgrätparkett sprengte und sie heulend neben dem Gerät auf den Boden sank.
Brigitte schloss die Tür ihres Arbeitszimmers, lief ins Badezimmer,drückte den schwarzen Gummistöpsel in den Abfluss
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