Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
meine ich auch zwanzig Minuten, okay?!«
»Ja, Frank! Ja!«, erwiderte sie genervt und lief aus dem Büro.
Wenn die Spätausgabe von RTL Aktuell über den Sender war, gingen alle nach Hause. Er nicht. Er genoss es, den Newsroom wieder für sich alleine zu haben und die Highlights noch einmal an seinem geistigen Auge vorüberziehen zu lassen. Auch am Vorabend hatte er das so gehalten und war im Halbdunkel zwischen den verwaisten Schreibtischen herumgegangen. Die DDR nahm diplomatische Beziehungen mit der Europäischen Gemeinschaft auf. Und mit der Beschlagnahme von 29 000 Kälbern bei Großmästern in Nordrhein-Westfalen ging der bisher größte Hormonskandal bei der Fleischproduktion in der Bundesrepublik einher. Nachrichtentechnisch betrachtet, war es ein Supertag gewesen. Mal sehen, vielleicht war ja aus der Geschichte in Gladbeck etwas rauszuholen. Er verspürte so ein komisches Kribbeln im Nacken. Jagdfieber.
***
Sie saß in der abgedunkelten Küche ihres Hauses in der Südstadt an dem großen schweren Holztisch, den Martin noch kurz vor seinem Tod auf ihren Wunsch hin taubenblau angestrichen hatte, und versuchte zu arbeiten. Wie lange schon? Eine Stunde? Zwei? Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren.
Vor ihr lag ein Stapel Manuskriptseiten, getrocknete bräunliche Flecken zierten die Blätter. Im randvollen Aschenbecher erinnerten zerdrückte Kippen an verendete Engerlinge. Von einer brennenden John Player Special stieg ein Rauchfaden kerzengerade zur Decke. Neben dem Aschenbecher stand ein Teller mit einem angebissenen gelblich glänzenden Toast und einem bis zum Griff verschmierten Messer, einer verschrumpelten Gewürzgurke und einem steinharten Stück Blutwurst. Am Rand war ein angetrockneter Klecks Senf. Auf dem kalten, dunkel gewordenenTee in ihrer Tasse schimmerten regenbogenfarbene Schlieren wie Ölspuren auf einer Pfütze. Angestrengt versuchte sie sich auf das Geschriebene zu konzentrieren. Wieder und wieder unterzog sie den Text einer genauen Überprüfung, wie eine Gerichtsmedizinerin, die eine Leiche untersucht. Doch ihre Gedanken schweiften immer wieder ab.
Brigitte wischte sich mit der bloßen Hand den Schweiß aus dem Nacken. Ihr Haaransatz war klatschnass. »Verdammte Hitze«, murmelte sie, legte den Kugelschreiber neben den Teller, drückte die Zigarette in den Senf und erhob sich.
Im Bad streifte sie ihr Nachthemd ab und ging unter die Dusche. Hinter der Milchglasscheibe verschwamm leuchtend grün der Garten. Unter das Prasseln des Wassers gegen die Duschkabinenwand mischte sich das Schreien eines Kindes, das von draußen hereindrang. Brigitte drehte den Duschkopf in ihre Richtung, legte den Kopf in den Nacken und genoss mit geschlossenen Augen das scharfe Prickeln der Wasserstrahlen auf ihrem Gesicht. Sie fragte sich, wie lange es wohl noch dauern würde, bis in ihrem Kopf eine Sicherung heraussprang oder ein Schalter umgelegt wurde und sie endlich wieder etwas anderes fühlte als Leere.
Draußen, hinter den mit Läden, Rollos und Vorhängen abgedunkelten Fenstern war Sommer, war August, der heißeste in Deutschland seit Beginn der Wetteraufzeichnung, und sie dachte: Ich verstecke mich im Halbdunkel meiner Wohnung wie ein Skorpion unter einem Stein, der darauf wartet, dass endlich Nacht wird und er im Schutz der Dunkelheit sein wahres Leben beginnen kann. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, unter ihrem Stein hervorzukriechen und sich schutzlos dem grellen Licht des Tages auszusetzen.
»Nein!«, sagte sie laut, und Wasser lief ihr in den Mund. »Ich bin noch nicht so weit. Noch lange nicht.«
***
»Da ist jemand von Radio Nürnberg dran und will einen der Bankräuber sprechen!«, sagte Andrea Branske und hielt Degowski den Telefonhörer hin. Degowski sah Hans-Jürgen Rösner fragend an. Mit seinem Colt hielt er Reinhard Allbeck in Schach.
»Gib her!«, rief Rösner und entriss der Bankangestellten den Hörer.
»Radio 97,1 aus Nürnberg!«, sagte eine Männerstimme. »Spreche ich mit dem Geiselnehmer?«
»Was denkst du denn?«, sagte Rösner genervt und kratzte sich mit der Spitze des Revolverlaufs am Kinn.
Der Reporter fragte: »Was genau sind Ihre Forderungen?«
Rösner antwortete: »300 000 Mark in kleinen Scheinen. Und einen BMW 735 i, einen dunklen. Zwei Paar Handschellen. Und freien Abzug. Wir nehmen die Geiseln nämlich mit.«
»Wie geht’s den beiden Geiseln denn?«
»Der Angestellte hier hatte vorhin so ’n Herzflattern, nä.«
»Sehen Sie denn eine
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