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Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Titel: Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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verstehe!«, wiederholte der Mann drehte sich um und verschwand die Straße hinunter.
    Rösner legte den Kopf in den verspannten Nacken, wiegte ihn kurz und dachte: Mann, wie gut dat hier riecht! Kurz fühlte er die Müdigkeit kommen, spürte, wie sie ihn anflog.
    »Mach hinne, Mensch!«, rief er wütend. »Oder meinste vielleicht, ich hab ewig Zeit!«
    »Ja, ich beeil mich ja. Is gleich so weit!«, sagte die Frau, wickelte die Schälchen mit den Pommes frites in Alufolie ein und schob sie zu den Würsten in die Papiertüte.
    »Allet einpacken!«, befahl Rösner. »Inne richtige Tüte mit Henkel, verstehste? Und nicht so ’n Scheißding aus Plastik, wo der Henkel gleich reißt!«
    »Ja, mach ich ja gerade!«, sagte die Frau. »Ich pack’s in eine aus Papier!«
    Endlich stellte die Frau die Tüte vor ihn hin, daneben die Flaschen. »Die Flaschen auch inne Tüte, schnell!«, sagte er.
    Die Frau befolgte seine Anweisung. Rösner sicherte die Waffe, schob sie sich unter den Hosenbund, holte seinen Schein hervor, packte die beiden Tüten und ging zum Wagen.
    ***
    Thomas Bertram fuhr aus wirren Träumen hoch und wurde wach. Das rhythmische Quietschen der Gesundheitsschuhe der Nachtschwester auf dem Linoleumboden des Flurs hatte ihn geweckt. Sein müder, unscharfer Blick glitt hinüber zu dem hellen, sich unterhalb der Tür waagerecht abzeichnenden Strich, den die Flurbeleuchtung erzeugte, und verharrte dort ein, zwei Sekunden.Dann bekam er, genau wie die Male zuvor, mit einem gezielten Griff seiner rechten Hand den kantigen Lichtschalter zu fassen, der die kleine Neonwandleuchte flackernd aufflammen ließ, und legte ihn um, woraufhin der mit einem Tuch verhüllte Inkubator ruckartig aus der Schwärze des Zimmers auftauchte.
    Leicht vorgebeugt, schob er den Kopf langsam und mit einer Behutsamkeit nach vorn, als balanciere er ein rohes Ei auf der Stirn, bis er sich der dünnen Glaswand auf wenige Zentimeter genähert hatte. Wieder stellte sich das irritierende Gefühl ein, in ein Puppenbett oder einen Guckkasten zu blicken, in eine Art View-Master, auf dessen rotierender Pappscheibe sich wechselnde Bilder des immer gleichen Motivs befanden. Dann stellte sich sein Blick langsam scharf, das Bild fror ein, stand still und blieb an dem feinen Draht hängen, an dessen Ende die Elektrode an der linken Wange seines Sohnes mit einem Stück Klebestreifen befestigt war.
    »Mein Gott, wie klein du bist!«, murmelte Bertram, zog das Tuch ein wenig beiseite und blickte auf den weißen, von innen gegen die Glaswand gelehnten und nur wenige Zentimeter kleineren Stoffteddybären, dessen schwarze, stecknadelkopfgroße Knopfaugen ins Leere blickten. Er sah auf seine Uhr, die Citizen-Automatik mit dem silbernen Stahlarmband, dem olivgrünen Zifferblatt und den türkisfarben fluoreszierenden Zahlen, die sein Vater ihm zu seinem achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Er hatte gerade mal 25 Minuten geschlafen.
    Früher, dachte er mit Blick auf den Inkubator, in dem sein Sohn seit inzwischen gut elfeinhalb Stunden um sein Leben kämpfte, habe ich in solchen Glaskästen Raupen gezüchtet und mir ein Leben als Schmetterlingsforscher erträumt. Und was ist stattdessen aus mir geworden? Ein kleiner Journalistenanwärter, den es aus Hirschhorn im Odenwald nach Köln zu RTL verschlagen hat und der, statt in den Tropen zu leben und der Wissenschaft zu dienen, tags zuvor hinter Leuten her gewesen war, diebereit waren, vor laufender Kamera etwas zu der Babyleiche in der ALDI-Plastiktüte zu sagen, die man unweit von Auweiler in einer Wiese gefunden hatte.
    Und nun das! Ein Kind, sein eigenes, das mehr als vier Monate zu früh und per Kaiserschnitt auf die Welt gekommen war. Ein Junge, Paul (Amina hatte sich diesen Namen gewünscht). 652 Gramm schwer, knapp 36 Zentimeter lang und gefangen zwischen Leben und Tod.
    Er warf einen letzten Blick auf seinen von einer federleichten blauen Thermodecke verhüllten Sohn, der ruhig und gleichmäßig zu atmen schien und ihn wegen seiner wie mit UHU zugeklebten Lider an die Blindfische erinnerte, die scheinbar orientierungslos zwischen all den Guppys, Black Mollys und Schwertträgerfischen durch das in der Hirschhorner Kanzlei seines Adoptivvaters stehende Aquarium getaucht waren – bizarre, pigment- und schuppenlose Höhlenbewohner, die, in tiefsten Meerestiefen an die Dunkelheit angepasst, ihr lichtloses Dasein führten und Bertram, wenn er als Kind vor dem von weißem Neonlicht erhellten Aquarium saß und ihre

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