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Ein dickes Fell

Titel: Ein dickes Fell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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sich in bösartiger Weise zwischen die Europäer und das Weltall zu schieben versuchten, obgleich doch niemand das Weltall so sehr liebt wie die Europäer, weit mehr als die Amerikaner, deren Weltallbegeisterung bloß politisch und ökonomisch zu verstehen ist. Die Europäer denken anders, sie sind allesamt sentimentale Astronomen.
    Verständlich also, daß die Aufmerksamkeit der Medien und des Publikums sich gar nicht so sehr auf das eigentliche Schauspiel bezog, sondern vielmehr auf die Gefahr, es als ein bloß theoretisches, hinter tränenden Wolken verborgenes Ereignis zu erleben.
    Beziehungsweise nicht zu erleben. Bereits am Morgen lag viel weniger eine Vorfreude denn eine Verzweiflung in der Luft. Allerorts bereitete man sich auf ein Scheitern vor. Und inwieweit dieses Scheitern zu kompensieren sei. Es war ganz klar: Eine Sonnenfinsternis, die nicht zu sehen war, war auch keine. Auf eine unsichtbare Corona wurde, wie man so sagt, geschissen. Die Radio- und Fernsehkanäle berichteten in einer selbst für ihre Verhältnisse ungewöhnlich hysterischen Weise über die jeweilige Entwicklung der Wetterfronten und unterschieden das Land und den Kontinent nur noch in wolkenfreie und wolkenverhangene Orte, wobei diese beiden Zustände häufig einem Wechsel unterzogen waren. Die Wolken hatten einen ganzen Vormittag Zeit, das Publikum an der Nase herumzuführen, Meteorologen in den Wahnsinn zu treiben, Europa zu verunsichern und also eine Irritation zu verursachen, hinter der das eigentliche Ereignis wie ein Glück hinter ein Unglück zurückfiel. Das Wetter war eine Krankheit, und jeder hatte Angst sich anzustecken.
    Im Falle der Stadt Wien kam nun noch hinzu, daß sie aus einer tragischen Bestimmung der Verhältnisse heraus – einer Bestimmung, die ja seit Anbeginn der Zeit existierte, als es noch kein Wien und keinen einzigen Wiener gegeben hatte –, daß die Stadt also knapp außerhalb des Kernschattens lag und somit eine bloß partielle Sonnenfinsternis zu erwarten hatte. Der Umstand, daß dieser Anteil am Halbschatten ein sehr hoher sein würde, tröstete die meisten Wiener in keiner Weise.
    Natürlich war niemand so kindisch, dem lieben Gott wegen der Konstellation der Gestirne einen Vorwurf machen zu wollen, was sich aber sehr wohl ergab, war eine tiefe Aversion gegen den Mond. Einen Mond, der zwar abstruse Orte wie Stuttgart und Bad Ischl mit einer lückenlosen Totalität versah, dem Weltzentrum Wien jedoch die Schmach eines nachlässigen Anstrichs antat. Eines Anstrichs, der gerade wegen seiner Neunundneunzigprozentigkeit als purer Hohn begriffen wurde. Als werde man von jemand geküßt, aber eben bloß auf die Wange, während dieselbe hübsche Person jemand anders die ganze Zunge in den Mund schiebt. Es ist nicht übertrieben zu sagen, daß das Verhältnis der Wiener zum Mond aus diesem Grund einen negativen Beigeschmack erfuhr, der sich nie wieder ganz verflüchtigen sollte.
    An diesem elften August warteten nun eine ganze Menge Wiener die Wetternachrichten ab, bevor sie sich entschieden, ob sie in der Unvollkommenheit Wiens verbleiben wollten oder aus der Stadt hinaus und in den Kernschatten (den man eigentlich als Kronschatten hätte bezeichnen müssen) hineinfuhren. Denn eines war natürlich klar, daß es nämlich besser war, eine partielle Sonnenfinsternis zu sehen als eine totale nicht zu sehen (die armen Stuttgarter etwa standen im Regen und fühlten sich einmal mehr als eine benachteiligte Spezies, eine Spezies, deren materieller Reichtum nichts daran änderte, in eine permanente Pechsträhne eingeschlossen zu sein).
    Auch Anna Gemini, die schon wegen ihres Familiennamens eine gewisse Vorliebe für Satelliten aller Art und diese gewisse Einsamkeit ihres Wesens besaß (auch wenn diese Einsamkeit eine zwillingshafte sein mochte), wünschte sich, die Finsternis in ihrer Gänze zu erleben, ließ sich aber viel zu lange Zeit und geriet dann mit ihrem Sohn am Stadtrand von Wien in einen Stau der Zögerlichen.
    Als das Ereignis nun eintrat und der Verkehr völlig zum Erliegen kam, tat Anna das, was alle taten. Sie verließ mit ihrem Sohn den Wagen und verfolgte vom Straßenrand aus die Wiener Beinahe-Verfinsterung der Sonne.
    Wenn nun immer wieder jene Stille der Natur, jenes Schweigen der Vögel, jener irrtümliche Glaube der Tierwelt, die Nacht breche an, beschrieben wird, so ergab sich im Falle Anna Geminis und der anderen betroffenen Verkehrsteilnehmer ein Erschlaffen der Welt, das seinen primären

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