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Ein dickes Fell

Titel: Ein dickes Fell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Ausdruck im Stillstand der Autos, vor allem aber im Stillstehen der Autobenutzer fand. Ansonsten hatte alles seine Ordnung. Das Licht wurde nicht etwa schwächer, sondern verstärkte sich in der Verwandlung, sodaß auch die Konturen der Gegenstände schärfer hervortraten, als stünden sie im Schein einer mit bläulichen Filtern versehenen Bühnenbeleuchtung. In die Lautlosigkeit hinein tönte ein Wind, oder auch nur die Einbildung eines Windes. Man traute sich nicht, etwas anzufassen, alles wirkte verstrahlt, vor allem natürlich die Karosserien, die jetzt an verlassene Kernkraftwerke erinnerten. Eine beängstigende Stimmung, als sei es also doch möglich, mit allen Sinnen in einem Traum zu erwachen und sich zu denken: Und was, wenn ich da nicht wieder rauskomme?
    In diese windige Stille hinein, in diese glasartige Konsistenz einer hinter einem Röntgenschirm stehenden Welt, brachen ohne jegliche Vorwarnung die Schreie Carls, die zu beschreiben unmöglich ist. Sie waren zu fundamental, als daß ein Bild oder Wort ihnen hätte gerecht werden können. Das waren nun mal Carls Schreie, die dem unbedarften Zuhörer ziemlich außerweltlich erscheinen mußten. Erst recht in dieser Situation, die zwar auch zutiefst außerweltlich anmutete, aber nach allgemeinem Verständnis der ungeeignetste Moment war, welchen Lärm auch immer zu erzeugen. Die Leute fühlten sich in ihrer Andacht mehr als nur gestört, sie fühlten sich bedroht.
    Anna Gemini nahm ihren Sohn in die Arme, hielt ihn fest. Mehr tat sie nicht. So unangenehm es ihr war, von anderen Menschen begafft zu werden, wäre sie niemals auf die Idee gekommen, Carl anzufahren. Zu zischen oder so. Statt dessen umfaßte sie seinen knochigen, schiefen Körper, vollzog einen sanften Druck, als stütze sie eine Hülle aus Packpapier, und wartete ab.
    In der Regel beruhigte sich Carl nach dem siebenten oder achten Schrei und wechselte in die aufgeregte Wiederholung eines jener Wörter, die seinem Sprachschatz entstammten, der nun wirklich ein Schatz war, bestehend aus wenigen Begriffen, die einen rätselhaften Glanz besaßen. Wie man sich vielleicht vorstellt, daß eine Maschine sprechen würde, wenn sie denn mit wirklichen Gefühlen ausgestattet wäre. Eine Maschine mit einer komplizierten, mysteriösen Intelligenz.
    In diesem Moment aber, da ein kleiner, wienfeindlicher Mond eine große, gleichgültige Sonne zu neunundneunzig Prozent abdeckte, hörte Carl nicht auf, in den verdunkelten Himmel zu schreien. Einige der Umstehenden begnügten sich nun nicht mehr damit, herüberzustieren und den Kopf zu schütteln, sondern keiften Richtung Anna und erklärten es für verantwortungslos, ein behindertes Kind einer derartigen Situation auszuliefern. Einer Sonne, die zur falschen Zeit erlosch.
    Das war nun der Moment, da der kleine Gott Smolek in Anna Geminis Leben trat. Der Archivar, der mit seinem Wagen auf der Nebenspur zum Halten gekommen war und wie alle anderen mit schwarzen, in Kartongestellen eingerahmten Gläsern zur Sonne gesehen hatte, kam jetzt herüber. Anna nahm augenblicklich eine Abwehrhaltung ein, befürchtete weniger einen Vorwurf als eine Hilfestellung. Hilfestellungen waren das schlimmste. Überall rannten Leute herum, die sich für Experten in Sachen Kinder, erst recht in Sachen behinderte Kinder hielten.
    Nun, eine Hilfestellung bot Smolek tatsächlich an. Allerdings keine pädagogische. Vielmehr erklärte er in seiner ruhigen, sachlichen Art – nicht ohne sich zuvor förmlich vorgestellt zu haben –, daß eine Menge desolater Schutzbrillen im Umlauf seien, durch die man so gut wie nichts erkennen könne, oder viel zu viel, oder einfach einen Unsinn. Jedenfalls sei er gerne bereit, seine eigene zur Verfügung zu stellen.
    »Ach was denn!« fuhr Anna den Mann verärgert an. Und folgerte: »Sie meinen also, mein Kind schreit, weil es die falsche Brille trägt?«
    »Sie entschuldigen, gnädige Frau. Das war so ein Gedanke. Eine defekte Schutzbrille ist ein Ärgernis. Ich selbst mußte mir drei besorgen, bevor ich endlich eine hatte, die auch wirklich funktioniert hat. Ich hätte auch schreien mögen, glauben Sie mir.«
    Anna zögerte. Dann sagte sie: »Gut. Probieren wir’s.«
    Sie zog Carl seine Brille vom Gesicht, während sie gleichzeitig seinen Kopf nach unten neigte. Tatsächlich beendete er augenblicklich sein Geschrei und verfiel in ein unregelmäßiges Schnaufen, wie nach einer beträchtlichen Anstrengung. Eigentlich hätte es sich angeboten, diesen

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