Ein dickes Fell
willkommenen Zustand nicht zu gefährden. Aber Anna wollte unbedingt, daß ihr Sohn in die verdunkelte Sonne sah. Alle Kinder taten das in diesem Augenblick. Und es war ihr durchaus wichtig, daß Carl soweit als möglich all das tat, was die anderen taten. Tolle Klamotten tragen, laute Musik hören, ein Skateboard fahren, in Schuhen schwimmen, Farben trinken und eben zur rechten Zeit in die Sonne sehen, wenn sie mit ihrer Mondmaske am Himmel stand.
Nun verfügte Anna natürlich auch selbst über eine Schutzbrille, die aber noch in ihrer Tasche steckte. Doch anstatt nach dieser zu greifen, nahm sie jene, die ihr Smolek entgegenhielt. Nicht nur, weil diese Brille mit Sicherheit intakt war, wie Smolek versichert hatte, sondern auch aus Respekt vor dessen freundlicher Geste.
Es klappte. Carl begann nicht wieder zu schreien, sondern gab ein schmatzendes Geräusch von sich. Was auch immer er sah und fühlte, es beruhigte ihn. Er öffnete seine Hände, spreizte die Finger und griff in die Höhe, als berühre er das Ereignis.
»Wollen Sie meine Brille?« fragte Anna und zog die ihre aus der Tasche.
»Wechseln wir uns ab«, schlug Smolek vor.
Das taten sie dann auch. Und man darf sagen, daß es eine gelungene Sache für alle Beteiligten wurde. Natürlich auch aus dem simplen Grund heraus, daß die Wolken, die kurz zuvor noch diesen Abschnitt Wiens überdacht hatten, im einzig richtigen Moment davongezogen waren. Brave, gute Wolken.
Als nun der Mond nach und nach aus dem Sonnenhintergrund heraustrat – wie einer dieser Jack-Lemmon-Typen, die beleidigt ein Restaurant verlassen, nicht ohne sich die Namen sämtlicher Kellner notiert zu haben –, da kehrten auch die Geräusche und der Hang zur Aktivität in die Welt zurück. Nicht wenige zückten ihre Mobiltelefone, um in Erfahrung zu bringen, wie es Freunden oder Familienmitgliedern ergangen war, die sich im Bereich des Kernschattens aufgehalten hatten. Und ob auch in ihrem Fall ein kleines Wolken-Wunder oder aber ein wettertechnisches Desaster sich ergeben hatte. Insgesamt war natürlich eine euphorische Stimmung unter diesen Menschen am Straßenrand zu spüren. Partiell hin oder her, sie hatten etwas zu sehen bekommen. In ihrem Fall hatte das Jahrhundert seine Pflicht erfüllt, seine letzte Möglichkeit gewahrt, nicht nur schlecht dazustehen.
Anna nahm Carl die Brille vom Gesicht und reichte sie Smolek, freilich feststellend, daß man all diese Dinger jetzt wegwerfen könne. Denn bis zur nächsten totalen Sonnenfinsternis …
»Wann ist die überhaupt?« fragte Anna.
»Juni 2001«, antwortete Smolek, »aber man müßte nach dem südlichen Afrika fliegen. Und ich finde, in der Fremde verliert diese Sache ihren Reiz. In irgendeiner Wüste hockend, auf irgendeinem Berg. Es geht ja darum, das Vertraute in einem unvertrauten Licht zu betrachten. Was in unserem speziellen Fall bedeutet, es in etwa zu sehen, wie es einst Adalbert Stifter gesehen hat.«
»Stifter?« fragte Anna. »Habe ich Sie richtig verstanden?«
»Oh, verzeihen Sie. Ich vergesse manchmal, in welcher Zeit ich lebe. Und daß man eigentlich nicht mit Stifter daherkommen sollte. Zumindest nicht, wenn man ihn nicht zumindest mit einem Stückchen Handke unterlegt hat. Stifter ohne Handke ist für den gebildeten Zeitgenossen wie eine Torte ohne Tortenboden, eine Torte, die zerfällt.«
Anna aber, erneut ärgerlich, meinte: »Für Stifter braucht man sich nicht entschuldigen.«
»Nicht?«
»Nein, sicher nicht«, bekräftigte Anna Gemini und erklärte, eine große Freundin des Stifterschen Werks, der Stifterschen Sprache und jener Präzisierung der Idylle zu sein. Daß dieser Autor ein fetter Reaktionär gewesen war, störe sie dabei nicht. Das sei ja wohl ein Sinn hoher Literatur – mitunter, nein, eigentlich sehr oft, eigentlich notwendigerweise –, von Monstren verfaßt zu werden.
»Das freut mich«, sagte Smolek. »Ich meine, daß Sie Stifter mögen. Man trifft selten jemand, der das ernsthaft von sich behauptet.«
»Halten Sie mich für ernsthaft?«
»Das tue ich. Auch wenn ich gestehen muß, daß wenig an Ihnen eine Begeisterung für Stifter vermuten ließe.«
»Wie müßte ich aussehen, um Stifter lieben zu dürfen?«
»Weniger elegant, weniger heutig. Aber lieben darf man natürlich auch die Dinge, die nicht zu einem passen.«
»Ich könnte eine Germanistin sein. Elegante, heutige Germanistinnen soll es ja wohl geben.«
»Germanistinnen lieben nicht. Schon gar nicht die Literatur. Wußten Sie
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