Ein dickes Fell
das nicht? Wenn eine Frau sich für dieses Fach entscheidet, entspringt das ihrer Verachtung gegen das Wort und die Sprache.«
»Wie? Und bei Männern ist das anders?«
»Sie halten mich jetzt sicher für parteiisch.«
»Der Gedanke könnte einem kommen.«
»Wenn Männer Germanistik studieren, steckt dahinter eine Leidenschaft, eine dumme und lächerliche, mag sein, aber eine Leidenschaft. Bei Frauen ist es immer die Verachtung.«
»In der Brigitte haben Sie das aber nicht gelesen. Klingt nach eigenem Vorurteil.«
»Ein gebildetes Vorurteil. Sie müssen wissen, ich arbeite für das Stadt- und Landesarchiv. Da trifft man natürlich auf eine Menge Damen vom Fach. Übrigens wäre zu sagen, daß die Verachtung nichts mit der Qualität zu tun hat. Vielleicht ist sogar das Gegenteil der Fall. Die Distanz der Frauen zur Materie ist selten ein Nachteil. Aber wie gesagt, von Liebe kann nicht die Rede sein. Schon gar nicht bei Stifter.«
»Tja, eine Germanistin bin ich wirklich nicht. Ich bin Mutter. Bis vor kurzem dachte ich, das genügt. Aber es genügt nicht. – Meine Güte, warum erzähle ich das? Geht Sie ja nichts an.«
»Das müssen Sie schon selbst wissen.«
»Wahrscheinlich macht mich das sentimental, die Sache mit der Brille.«
»Daß uns das ein klein wenig verbindet, gnädige Frau, finde ich, ist kein Unglück.«
»Stimmt auch wieder. Ein Unglück ist das nicht.«
Und das war es ja nun wirklich nicht. Denn obwohl Anna Gemini die Position Smoleks gegenüber österreichischen Germanistinnen für einen therapiewürdigen Altherren-Spleen hielt, war ihr seine unverblümte und zugleich trockene Art sympathisch. Ungeachtet des zutiefst Persönlichen seiner Sichtweise, war er ja nicht wirklich persönlich geworden.
Smolek wiederum konnte sich nur wundern, wie offen er gesprochen hatte. Im Kreis seiner Kollegen und Freunde hätte er sich nie und nimmer zu einer solchen Behauptung verstiegen. Und wenn er tausendmal recht hatte. Recht zu haben war kein Argument. Er war Beamter, nicht Rechthaber.
Hingegen ergab sich durchaus ein Argument aus der Notwendigkeit, einen Verkehrsstau aufzulösen. Die meisten Lenker saßen wieder in ihren Autos, und da nun Gemini und Smolek je eine Spur versperrten, ertönte ein forderndes Gehupe.
»Ja, wir müssen wohl«, sagte Smolek. »Wenn Sie einmal Lust haben, besuchen Sie mich im Rathaus. In meinem Büro, soweit man das als Büro bezeichnen kann.«
»Ich dachte«, erwiderte Anna, »das Stadt- und Landesarchiv sei nach Simmering gezogen, in einen dieser Gasometer.«
»Richtig. Aber mich hat man zurückgelassen. Um das Unwichtige zu ordnen, das Übriggebliebene, den Rest der Historie.«
»Im Rest kann so manche Überraschung stecken.«
»In meinem Rest nicht. Also, wenn Sie Lust haben …«
Anna Gemini hatte Lust. Nicht sofort, da sie zunächst einmal überlegte, daß dieser ältliche Mann sich möglicherweise einbildete, irgendeinen Eindruck auf sie gemacht zu haben, und daraus die falschen Konsequenzen zog. Doch als sie dann einige Wochen später mit Carl eine vormittägliche Veranstaltung besuchte, die auf dem Rathausplatz stattfand, jener Fläche, die wie ein betonierter Truppenübungsplatz das Wiener Burgtheater und das Wiener Rathaus weniger trennt als verbindet, da beschloß sie kurzerhand, jenem »Archivar der Reste« einen Besuch abzustatten.
Während sie jetzt mit Carl in den zentralen Innenhof des sandburgartigen Rathauses trat, wurde ihr allerdings bewußt, sich nicht einmal mehr an den Namen des Mannes erinnern zu können. Auch wäre ihr schwergefallen, die äußerliche Unauffälligkeit seiner Person beschreiben zu wollen. Was natürlich gar nicht nötig war. Es hätte gereicht, sich nach jener im Rathaus verbliebenen Stelle des Stadt- und Landesarchivs zu erkundigen. Doch Anna beschloß, dies bleiben zu lassen. Etwas in ihr wehrte sich. Etwas in der Art eines hellsichtigen Antikörpers.
In diesem Moment spürte sie Carls festen Griff. Er hatte sie am Ärmel gepackt und zog sie in Richtung auf einen vom Schatten verstellten Teil des Hofs. In diesem Schatten, zunächst für Anna kaum erkennbar, stand Smolek und unterhielt sich mit einer Frau. Besser gesagt die Frau unterhielt sich mit ihm. Er selbst wirkte kleiner und beleibter als noch im toxischen Licht der Sonnenfinsternis. Die Frau redete mit dem gestreckten Finger auf ihn ein, wobei Smolek keinesfalls gebeugt anmutete, sondern stämmig in der Art eines Steinquaders, der einen Weg markiert. Auf einen
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