Ein dickes Fell
solchen Stein konnte man vielleicht einreden, ihn aber heben, das war eine andere Sache. Und tatsächlich erwies sich die Position Smoleks innerhalb des Archivs bei aller Bedeutungslosigkeit und inselhaften Isolierung gefestigt wie kaum eine. Wer wollte den Mann versetzen, der die Reste verwaltete?
Anna sah ihren Sohn an, lächelte und sagte, sich jetzt des Namens erinnernd: »Ja, du hast recht, das ist Smolek.«
»Smooolek«, wiederholte Carl, wie man sagt: Guuute Reise. Oder wie man sagt: Schööönen Abend.
Ganz offensichtlich hatte Carl nicht vergessen, wer ihm einen einwandfreien Blick auf jene Sonnenfinsternis ermöglicht hatte. Der Junge besaß ein gutes Gedächtnis und einen scharfen Blick. Vielleicht sogar für die Dinge an sich, in jedem Fall für ihre sichtbare Gestalt. So liebte er etwa Katzen und katzenartige Wesen, und zwar in jeder Form. Ein Löwe, der steinern in einer Fassade steckte, an der man mit der Straßenbahn vorbeifuhr, blieb Carl unter keinen Umständen verborgen. Bloß, daß man kaum verstand, wenn er, auf seine Entdeckung weisend, »Löwe« sagte. Aber das war ja auch nicht der Punkt. Was nützte es denn umgekehrt, das Wort »Löwe« richtig und deutlich auszusprechen, wenn man blind für Löwen war und sie unentwegt übersah?
Carl übersah keine Löwen. So wenig wie eine vertraute Person. Und offensichtlich empfand er Smolek als eine solche. Er winkte. Smolek bemerkte ihn, winkte zurück. Die Dame mit dem Finger sah verärgert herüber. Sie mochte es wohl nicht, gestört zu werden. Ihr Gesicht war ein böser Strich.
»Bleib hier«, sagte Anna.
Carl blieb stehen, hörte aber nicht auf zu winken. Er hätte Stunden so stehen können. Denn bei aller Hektik, die seinen Körper des öfteren erfaßte, verfügte er auch über eine erstaunliche Geduld, mit der er etwas tat oder etwas beobachtete. Es war die Geduld eines Kleinkindes, das Wasser von einem Becher in einen anderen schüttet und wieder zurück, den Vorgang unentwegt wiederholend, wie um eine Kleinigkeit zu entdecken, eine wesentliche Kleinigkeit, etwas, das sich als besonders richtig oder besonders falsch erweisen würde. Aber auf den ersten Blick nicht zu erkennen war.
Von Geduld konnte im Falle der Dame mit dem gestreckten Finger keine Rede sein. Sie fühlte sich von dem winkenden Jungen regelrecht unter Druck gesetzt, wobei ein Junge nun mal winken durfte, solange er wollte. Mitten in Wien stehend, im Herzen des Rathauses, sowieso.
Die Dame mit dem Strichgesicht redete noch eine halbe Minute auf Smolek ein, wandte sich sodann tiefer in den Gebäudeschatten und verschwand hinter der Schwärze der Arkaden.
Smolek kam auf Anna und Carl zu und reichte zuerst der Mutter, dann dem Jungen die Hand, wobei er nach den noch immer winkenden Fingern griff, Carls Hand sachte nach unten führte, um sie dann aber ordentlich zu schütteln. Es beeindruckte Anna Gemini, wie selbstverständlich und respektvoll sich dieser Mann verhielt, indem er nicht etwa Carl über die Haare strich oder ihn schamvoll übersah. Smolek schien nicht zu vergessen, daß er es mit einem Vierzehnjährigen zu tun hatte, nicht mit einem Baby. Die wenigsten Menschen waren dazu in der Lage.
»Schön, Sie beide zu sehen«, sagte Smolek. »Und entschuldigen Sie, daß ich Sie habe warten lassen.«
»Eine Germanistin?« fragte Gemini.
»Wer?«
»Die Frau, mit der Sie sprachen.«
»Wie kommen Sie auf die Idee?«
»Diese Verbissenheit des Ausdrucks«, konstatierte Anna und erinnerte Smolek an seine geäußerte Theorie über das Wesen mancher studierter Frauen.
»Ach, und das konnten Sie auf die Distanz feststellen? Sie haben nämlich recht. Die Frau ist wirklich Germanistin. Eine Dame aus der Bibliothek. Eine, gelinde gesagt, ungemütliche Person.«
»Eigentlich sollte es bloß ein Scherz sein.«
»Der Scherz ging ins Schwarze, Frau Gemini. Kommen Sie, ich zeige Ihnen mein Reich.«
Smolek führte seine beiden Gäste zur Nordflanke des Gebäudes, dirigierte sie ins Innere und einige Stufen hinauf, um sodann eine schwarz lackierte, schmiedeeiserne Türe zu öffnen, die hinunter in den Keller führte, dorthin, wo mehrere langgestreckte Räume hohe Zettelkästen bargen.
»Der Rest«, stellte Smolek vor und vollzog eine umfangreiche Geste.
Im hintersten Teil, abgeschieden und fensterlos, befand sich sein Büro, nicht irgendein Kämmerchen, sondern ein Raum, der von allen »Smolek’s End« genannt, eine buchtitelartige Bedeutung innerhalb des nach Simmering
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