Ein dickes Fell
umgezogenen Archivs sowie auch der Rathausverwaltung besaß. Eine gewisse surreale Konnotation haftete dieser ganzen unterirdischen Situation an, etwas Gestriges. Obsolet, aber spannend. Als habe sich ein kafkaeskes Element in seiner ursprünglichen Form erhalten, als ein lebendes Fossil, während man überall anders dem Kafkaesken die Haut abgezogen hatte, um es sodann einer Revitalisierung zuzuführen, die sich gewaschen hatte. Wie ja ganz Wien einer aufpolierten Geisterbahn glich.
Smolek’s End wirkte bei alldem aber weder spukhaft noch ungemütlich. Sämtliche Wände waren bis zur Decke hin mit Büchern ausgekleidet, selten aufrecht gereiht, zumeist in Stapeln plaziert. Aus vielen Bänden ragten zungenartig Lesezeichen. Obgleich alles sehr sauber war, roch man den Staub. Obgleich mehrere Lampen brannten, herrschte Dunkelheit. Der Bildschirm eines Computers präsentierte die Abbildung eines Aquarells. Anna Gemini erkannte augenblicklich, daß es sich um eine Arbeit Peter Fendis handelte. Mit derselben Bestimmtheit, mit der ihr Sohn Löwen aus Fassaden filterte.
»Sie begeistern sich scheinbar nicht nur für Stifter.«
»Ich liebe den ganzen Biedermeier«, sagte Anna Gemini.
»Es gab bessere und schönere Zeiten in dieser Stadt.«
»Halten Sie mich für einen Trottel«, fuhr Anna den Archivar an, »daß ich das nicht weiß? Ich habe nicht behauptet, ich würde das Elend dieser Epoche lieben. Ich liebe allein die Weise, mit der man dieses Elend ertragen hat.«
»Soll das heißen, Sie lieben die Verdrängung?«
»Verdrängung wäre etwas anderes. Ich spreche aber von Ausgleich. Von Gestaltung. Von der Erhöhung der Dinge, eben der wirklichen Dinge, der wirklichen Menschen und tatsächlichen Ereignisse. Etwa die Würde, mit der Waldmüller seine bäuerlichen Figuren ausgestattet hat. Ist diese Würde denn Kitsch, nur weil sie nicht wirklich existiert hat? Um ehrlich zu sein, mir ist eine erfundene Würde lieber als keine. Drehen Sie den Fernseher auf, dann wissen Sie, was ich meine.«
»Ich bin trotzdem verwundert, Frau Gemini. Wie schon beim letzten Mal. Sie sehen einfach nicht aus, als wären Sie ein Feind der Zeit, in der Sie leben. Sie sehen nicht aus, als wäre Ihnen Stifter näher als Ally McBeal oder Sex and the City. Ich aber, ich sehe so aus.«
»Ja, das tun Sie wirklich.«
Eine Weile schwiegen Anna und Smolek. Carl brabbelte vor sich hin und tippte mit einem Finger auf die nachgebende Kunststoffscheibe des Monitors, wodurch sich kurzlebige Spuren ergaben, Spuren wie auf Wasser. Als liege der Fendi in einem seichten Bach, was nun zwar ein passender, aber konservatorisch unglücklicher Ort für ein Biedermeier-Aquarell gewesen wäre.
Anna Gemini fühlte sich unwohl. Warum bloß meinte sie diesem Mann gegenüber so offenherzig sein zu müssen? Nur, weil er einen Fendi auf seinem Schirm hatte? Nur, weil er höflich gegen Carl war?
»Ich tarne mich«, sagte Anna Gemini. »Ich tarne mich und mein Kind. Ich möchte modern aussehen und modern leben. Ich möchte nicht wie eine Oma daherkommen, bloß weil ich für den Biedermeier schwärme. Und denken Sie jetzt bitte nicht, ich hätte Kunstgeschichte studiert, was ja alles erklären würde. Diese Stifter-Liebe und Fendi-Liebe trotz kurzem Rock und Lippenstift.«
»Soll ich Ihnen sagen«, fragte Smolek, »was ich von Kunstgeschichtlerinnen halte?«
»Ich kann es mir denken. Frauen, die für die Germanistik zu blöd sind.«
»Das wäre übertrieben. Aber die Richtung stimmt.«
»Ihr Haß auf Akademikerinnen scheint mir krankhaft zu sein. Zumindest ziemlich auffällig.«
»Da mögen Sie recht haben. Ich bin ein alter Mann, der sich schwertut mit einer bestimmten Art gebildeter Frauen.«
»Nun, da haben Sie aber Glück, daß sich meine Bildung in Grenzen hält.«
Smolek erwiderte, daß einen Fendi auf Anhieb zu identifizieren, nicht gerade für Unbelesenheit spreche.
»Ich werde doch noch die Objekte meiner Liebe erkennen«, sagte Anna, und das war kein bißchen kokett gemeint. Ihr Wissen war tatsächlich alles andere als enzyklopädisch oder auch nur umfangreich. Sie suchte sich aus, was ihr gefiel. Um das übrige kümmerte sie sich nicht. Alles von Stifter, nichts von Grillparzer. Alles von Fendi (also auch seine berüchtigten pornographischen Arbeiten), nichts von Gauermann.
Bevor Smolek den Aspekt der Liebe kommentieren konnte, äußerte Anna, daß man im Falle eines Peter Fendi doch wohl kaum von einem »Rest« oder »Abfall« der Historie
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