Ein dickes Fell
zurückbegeben zu haben. So wie ja auch ein Fisch, deprimiert und erschöpft von einem Tag an der Uni, noch in der Nacht ins Wasser springt, um Versäumtes nachzuholen.
Links neben dem Eingang ins Lokal befand sich eine massive und natürlich verschlossene Pforte, die ins Haus und zu den Wohnungen führte, zumindest in jenen Teil, der zur Burggasse hin gelegen war. Die Gegensprechanlage stach mit einer erleuchteten Zahlentastatur aus dem Dunkel heraus wie eine von diesen Prophezeiungen, die in die Luft geschrieben stehen. Auf der anderen Seite des Tors war eine Liste mit den Namen der zahlreichen Mieter angebracht. Neben einem jeden ein fünfstelliger Zahlencode. Was freilich fehlte, war der Name Smoleks.
»Phantastisch!« fluchte Anna. »Und dafür mußten wir durch die halbe Stadt fahren.«
»Moment noch«, sagte Cheng und trat durch die benachbarte, unverschlossene Türe, die ins Wirtshaus führte. Gemini und Janota folgten ihm.
Herr Stefan stand in dem vollkommen leeren Lokal hinter seiner budenartigen Ausschank und war gerade dabei, irgendein Dokument zu überprüfen. Er war ein großer Nachrechner und Durchrechner, der etwa die Preise seiner Speisen, so niedrig er sie hielt, immer wieder nach allen Richtungen hin kalkulierte. Seine ganze Preispolitik basierte auf höchst komplexen Überlegungen. Auch minimalste Beträge besaßen eine … nun, man möchte sagen, eine Bedeutung jenseits des Irdischen. Jenseits, aber berechenbar. Und wenn schon soviel über kleine und große Götter gesprochen wurde, muß auch gesagt werden, daß der Eindruck entstand, Herr Stefan würde seine im Grunde geringen Einkünfte mit Gott höchstpersönlich abrechnen. Am besten in der Ruhe und Stille einer Nacht, die auf einen Ruhetag folgte.
Herr Stefan blinzelte über den Rahmen seiner Gläser – sodaß die Brille weiterhin auf das Papier gerichtet blieb – und erklärte Cheng, daß das Wirtshaus geschlossen sei.
»Ich will nichts trinken«, sagte Cheng. »Ich will zu Smolek. Sie erinnern sich vielleicht, ich war Sonntag abend mit ihm zusammen. An dem Tisch dort drüben.«
»Ich erinnere mich«, sagte Herr Stefan, wobei sein ungarischer Akzent in etwa die Funktion zweier Wasserskier besaß, auf denen der Artikulierende über die harte, unebene Wasserfläche der deutschen Sprache dahinflog.
»Ich müßte mit Smolek reden«, sagte Cheng. »Es ist äußerst wichtig.«
Herr Stefan lachte. Es klang, als schneuze er sich. Dann verwies er darauf – indem er nach rechts oben auf eine Uhr zeigte, die wie das meiste hier einen Gelbstich besaß –, wie spät es sei.
»Ich weiß, wie spät es ist. Wenn Sie mir sagen, welche Nummer er hat, reicht mir das. Er wohnt doch in diesem Haus, nicht wahr?«
»Warum fragen Sie, wenn Sie sein Freund sind?«
»Ich bin ein Kollege, kein Freund«, schwindelte Cheng und sagte dennoch die Wahrheit.
»Und die anderen Herrschaften?« fragte der Wirt und zeigte auf Gemini und Janota.
»Wir arbeiten alle mit Smolek zusammen«, erklärte Cheng.
»Wie? Das Stadtarchiv?«
»Nein, was anderes.«
»Ich wüßte nicht«, sagte Herr Stefan, »wovon Sie sprechen. Interessiert mich auch nicht.«
Cheng wurde ungeduldig: »Was verlangen Sie denn? Daß die Dame neben mir eine von ihren beiden Pistolen aus der Tasche zieht und Ihnen an die Stirn hält, nur damit Sie uns fünf Ziffern verraten?«
»Selbstverständlich nein«, sagte Herr Stefan, ohne das geringste Anzeichen einer Unruhe oder gar Ängstlichkeit. Vielmehr sah er auf seine Liste, bat um einen kleinen Moment, zog einen Strich unter eine Reihe von Zahlen, nahm eine Addition vor und legte sodann das Papier zur Seite, wobei er es in einem präzisen rechten Winkel zur Umgebung positionierte. Ein genauer, ordentlicher, vor allem aber ein sparsamer Mensch, dessen Umgang mit Gegenständen auf eine längstmögliche Lebensdauer ausgerichtet war. Man konnte sich vorstellen, wie der zuvor erwähnte liebe Gott ihm über die Schulter sah und erklärte: »Genau so mag ich es.«
Herr Stefan stützte seine beiden Hände am Rand der Spüle auf und sah ruhig zwischen den drei Personen hin und her. Es war kaum anzunehmen, daß er Chengs Hinweis auf zwei Pistolen ernst genommen hatte. Waffen gehörten ins Fernsehen und hatten in Damenhandtaschen nichts verloren. Andererseits war sich Herr Stefan dennoch im klaren darüber, daß er die Nachtruhe Kurt Smoleks nicht würde erhalten können. Unmöglich, diese drei Personen abzuwimmeln. Das sah man ihnen an. Der Frau noch
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