Ein dickes Fell
sich für unwiderstehlich hielt. Aber ihm schwante, daß weder er selbst noch Frau Rubinstein das wirklich entscheiden würden, sondern eine vorlaute Elfjährige. Elfjährige bestimmen, wie ein Haushalt aussieht, das ist bekannt. Sie bestimmen, welches Auto gekauft wird, welche Tiefkühlpizza, bestimmen die Zahlen beim Lotto. Und nicht zuletzt den neuen Mann ihrer Mutter. Und was wäre ein Ehemann anderes als der wesentlichste Teil eines Haushalts?
Frau Rubinstein stieg vom Tisch und half sodann Cheng herunter, nicht ohne den Blick von Lena zu lassen. »Gott, mein armes Kind …«
»Bringen Sie Lena hinunter und legen Sie sie ins Bett«, sagte Cheng, der sich jetzt wieder im Griff hatte. Er zog ein Kärtchen aus seiner Tasche und reichte es Rubinstein: »Das ist die Nummer der Kriminalpolizei. Rufen Sie dort an. Oberstleutnant Straka. Er soll kommen. Das ist sein Fall. Das ist sein Toter.«
»Lena …«
»Ich rede mit Straka, erkläre ihm, was geschehen ist. Er wird darauf verzichten, mit Lena auch nur sprechen zu wollen. Alles, was Lena ihm sagen kann, kann ich ihm auch sagen.«
»Und das wird er akzeptieren?«
»Ja. Das wird er. Wir sind Brüder im Geiste. So ungefähr.«
»Das hätte nicht zu geschehen brauchen«, sagte Rubinstein.
»Sie haben mich angelogen, Herr Cheng. Sie haben behauptet, ohne guten Grund in dieses Haus gekommen zu sein.«
»So war es auch. Ich habe nicht ahnen können, was daraus wird.«
Rubinstein sah ihn an, als glaubte sie ihm nicht. Allerdings lag in ihrem Schauen auch ein Verzeihen, wie man es Menschen gegenüber praktiziert, an die man sich gebunden fühlt. Die man nicht einfach verdammen und zum Henker schicken kann. Schon gar nicht, wenn man ihnen gerade die Schlinge des Henkers entfernt hat. Ja, so war das. Frau Rubinstein würde – gleich, was sie dachte – Cheng verzeihen. Und sie würde natürlich auf ihre Tochter hören, auf Lena, die nun mal, Gott weiß warum, beschlossen hatte, daß der Mann, den sie noch kurz zuvor als »verkrüppelten Chinesen« bezeichnet hatte, der richtige Mann für ihre Mutter sei. Vielleicht sogar der richtige Vater für sie selbst. Zunächst aber war Zeit zum Schlafen. Und Zeit zum Vergessen. Frau Rubinstein hob ihr Kind hoch, sodaß ihrer beider Wangen sich wie die geschlossenen Flügel eines Falters berührten. Zu Cheng sagte sie: »Versprechen Sie mir, Lena aus der Sache herauszuhalten?«
»Ja, das werde ich.«
Rubinstein trug Lena aus dem Raum.
Cheng und der tote Gregor Pavor waren jetzt alleine. Zwischen ihnen lag etwas wie das Manko, sich nicht wirklich kennengelernt zu haben. Wie auch das Manko, daß nicht einer von ihnen, sondern eine minderjährige Ballettschülerin die Entscheidung herbeigeführt hatte. Ein Manko, mit dem Cheng freilich leben konnte. Und Gregor Pavor ganz eindeutig nicht.
»Sie können es einfach nicht lassen, was?« tönte Straka, als er hereintrat. »Stolpern immer wieder in solche Geschichten hinein.«
»Ich stolpere nicht, schon lange nicht mehr«, entgegnete Cheng. »Sie sehen mich so gut wie unverletzt.«
»Wie ich gehört habe, wären Sie beinahe erhängt worden«, äußerte Straka und sah hinüber zu der Schlinge, die jetzt nur noch wie eine dicke Wäscheschnur unter dünnen anmutete.
»Beinahe, wie Sie schon sagten, nur beinahe, darauf kommt es ja wohl an«, meinte Cheng.
»Das stimmt allerdings.«
»Glück gehört natürlich auch dazu«, gestand Cheng. »Wobei man das Glück erzwingen muß. Das ist ein bißchen metaphysisch, gebe ich zu. Aber Metaphysik muß oft sein, man tät sich sonst schwer mit dem Argumentieren.«
»Da draußen«, sagte Straka, »steht eine Alte und regt sich auf, eine Göre namens Lena hätte ihren Geliebten erschossen. Geliebter?«
»Hatte eine Schwäche für alte Frauen«, sagte Cheng und blickte auf den Toten hinunter. »Und eine Schwäche für Stricke. Er heißt Gregor Pavor. Und jetzt halten Sie sich fest: Er ist in den 4711-Fall verwickelt.«
Cheng erzählte, was er wußte. Erzählte vom Besuch in seiner alten Wohnung und wie er ausgehend vom Schicksal der drei Kartäuserkatzen sich Zugang zu Pavors Wohnung verschafft hatte. Und von Pavors Wohnung in Pavors Schlinge geraten war, um dann immerhin zu erfahren, auf welche Weise Frau Kremser hatte sterben müssen. Und daß hinter alldem das Geheimnis jener 4711-Rezeptur steckte. Oder was auch immer der Zettel beinhaltete, der sich angeblich irgendwo im Haus befand.
Und dann war also – im einzig richtigen Moment,
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