Ein dickes Fell
Ich weiß es nicht, aber wenn ich eine Zielscheibe sehe, kommen mir solche Gestalten in den Sinn. Vielleicht auch nur der Masse wegen, weil man meint, sie leichter zu treffen als die Dünnen. Auch zappeln die Dicken weniger herum. Ich muß nämlich gestehen, ein Genie bin ich nicht. Ein Genie als Schützin. Was ich schade finde, denn wär ich eines, könnte ich darin eine Bestimmung erkennen. So wie man eine Bestimmung erkennt im Klavierspielen, wenn man es leicht erlernt. Aber eine Killerin, die schlecht schießt, ist natürlich ein Witz.«
»Wie schlecht denn wirklich?«
»Zumindest nicht gut genug, als daß ich denken könnte, Gott will, daß ich das tue.«
»Und wenn doch?«
»Ja. Vielleicht muß ein jeder schuldig werden. Jeder auf seine Art. Und die Frage ist nur, auf welchem Niveau das geschieht.«
Anna hielt sich die Hand vor ihre roten Lippen und murmelte dann: »Meine Güte, was rede ich da für einen Unsinn?«
»Ach, ich weiß nicht …«
»Okay«, sagte Anna Gemini, »ich stehe hin und wieder am Schießstand und stelle mir dicke Männer vor. Das ist es auch schon.«
»Und wer paßt in der Zwischenzeit auf Carl auf?«
»Carl ist immer dabei. Die Leute dort haben nichts dagegen. Sie finden es richtig bei einem Jungen in seinem Alter. Sogar bei einem behinderten Jungen. Das ist wahrscheinlich der Höhepunkt ihrer Toleranz. Wobei ich mich nicht beschweren darf. Keine Nazis, keine Revolverhelden, keine Wahnsinnigen. Die einzige Wahnsinnige bin ich wohl selbst.«
»Ich würde Ihnen gerne einmal zusehen. Ich meine, wenn Sie schießen.«
»Was erwarten Sie sich?«
»Ein Genie«, sagte Smolek und lachte ein graues Lachen.
4 Das Haus, das den Weg wies
Nur wenige Tage später besuchte Smolek jene ehemalige Bowlinghalle, die nun einem zumeist älteren Publikum als Schießplatz diente. Wie Smolek feststellen konnte, war Anna Gemini tatsächlich eine mittelmäßige Schützin. Aber was sagte ihm das? Daß sie eine schlechte Killerin sein würde? Nein, um diesen Beruf ausüben zu können, waren ganz andere Fähigkeiten vonnöten als ein goldenes Händchen für Waffen und ein teleskopischer Blick. Auch nicht etwa Kaltblütigkeit oder gar ein brutales Wesen. Für Schlächter gab es andere Jobs. Eine Person hingegen, wie Smolek sie suchte – und er suchte aus einem konkreten Anlaß –, mußte vor allem durch ihre Unsicherheit bestechen. Es gab ein Maß an Unsicherheit, das sich immer wieder als Vorteil erwies. Was für einen jeden Lebensbereich galt. Menschen, die in moderater Weise an einer Sache zweifelten, waren viel eher in der Lage, genau diese Sache durchzuziehen. Der Zweifel war das Gerüst, auf dem sie sicher standen, in etwa wie ein bei Hitze schwitzender Mensch schlußendlich die Hitze besser aushält als ein nicht schwitzender. Jene, die nie und nimmer zweifeln, brechen nicht selten unterhalb des Gipfels zusammen. Derart erschöpft von der eigenen Entschlossenheit, daß sie nicht einmal mehr dazukommen, sich zu wundern, trotz ihres enormen Talents und ungeheuren Muts wieder einmal versagt zu haben.
Smolek benötigte einen Killer, der weder von sich noch von seiner Aufgabe restlos überzeugt war. Und er suchte jemand, der neu in diesem Gewerbe war und die Fähigkeit besaß, über das Augenscheinliche hinauszusehen, auch über das Augenscheinliche des Zielobjektes. Dabei dachte er jetzt immer öfter an Anna Gemini als die ideale Person, obgleich die permanente Anwesenheit des Kindes natürlich zu denken gab. Gleichzeitig konnte sich Smolek seine ideale Killerin nur als einen Menschen mit Hindernissen vorstellen. Begeisterung für Adalbert Stifter, Kirchenbesuche, treue Mutterschaft, mediokre Schießkünste, Auftragsmord – das erschien ihm als eine interessante, schlußendlich zwingende Mischung. Er war jetzt wieder ganz der kleine Gott, der die Dinge in einer ungewöhnlichen Weise in die Hand zu nehmen gedachte. Daß er dabei eventuell ein großes Unglück provozierte, kümmerte ihn wenig, denn er war ja kein lieber Gott, sondern eben nur ein kleiner.
Bei einem Ausflug in den Wienerwald, als ein heißer Sommer mit aller Gewalt die letzten kühlen Plätze aufstöberte und der Boden wie frisches Brot dampfte, wagte es Smolek, von seiner »zweiten Tätigkeit« zu berichten, davon, daß er … ja, daß er Frieden schuf. Denn es gab nun einmal Konstellationen im Leben der Menschen, da eine Verständigung so wenig fruchtete wie eine Einschaltung der Gerichte. Auf den Punkt gebracht, mußte man sagen,
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