Ein dickes Fell
daß im Zuge solch schwieriger Konstellationen einfach zu wenig Platz für zwei Leute auf dieser Welt war. Und somit einer davon aus der Welt genommen werden mußte. Danach war dann alles sehr viel besser, sehr viel entspannter. Mit Dingen wie Krieg und Völkermord und allerlei sinnlosem Gemetzel war dies nicht zu vergleichen. Die Interventionen, die er, Smolek, veranlaßte, führten niemals zu Gegengewalt und Haß, zu Unruhe und Bitterkeit, sondern eben immer nur dazu, daß Frieden einkehrte. Und mancher dauerhafte Friede wurde allein möglich, indem ein bestimmter Mensch von der Bildfläche verschwand.
Smolek schloß mit der Bemerkung, daß es also durchaus als Bestimmung angesehen werden könne, daß er und Anna sich begegnet seien.
Anna Gemini war fassungslos. Natürlich war sie das. Alles bisher Besprochene war pure Theorie gewesen, ein gedankliches Experiment, ein Hinterfragen des Gewohnten, im Grunde ein Spaß, so wie es ein Spaß war, Kugeln auf Scheiben abzufeuern, ganz gleich, wieviel dicke Männer einem dabei durch den Kopf gingen. Smolek aber hatte von wirklichen Tötungen gesprochen, Tötungen, die er beschlossen und deren Durchführung er mit Bedacht und Übersicht organisiert hatte.
»Wie konnten Sie mir antun, davon zu erzählen?«
»Das mußte ich ja wohl«, meinte Smolek, »wenn ich Sie jetzt frage, ob Sie für mich arbeiten wollen.«
»Gütiger Gott«, schrie Anna in den Wald hinein, während Carl in einiger Entfernung versuchte, an einem viel zu glatten Baumstamm hinaufzuklettern. Er kam kein Stück vorwärts, hielt es immer nur wenige Sekunden in der Baumumarmung aus. Dann rutschte er ab, sprang auf den Waldboden und versuchte es von neuem. Schweiß tropfte von seinen Haaren. Sein von dunklen Flecken maseriges Hemd hing ihm aus der Hose. Das Sonnenlicht, das in Portiönchen, in Scherben, Flocken, Schnipseln und Perlen durch das Geäst drang, verlieh allem und jedem eine zebraartige Erscheinung. Carl war somit ein Zebra, das einen Baum erklimmen wollte. Seine Mutter hingegen war ein Zebra im Zustand der Bestürzung. Kurt Smolek jedoch war kein Zebra. Er saß derart in einen Schatten eingekleidet, daß kein Funken Licht ihn erreichte. Zudem wirkte er überaus gelassen. Denn auch wenn die Hitze den gesamten Wienerwald eingenommen hatte, die Grauheit Smoleks, welcher bei fünfunddreißig Grad ein langärmeliges Hemd trug, war unangetastet geblieben. Man hätte ihn für einen Untoten halten können. Und das war er wohl auch in Anna Geminis Augen. Mit einem Kopfschütteln fragte sie, was sich Smolek denn vorstelle, was sie für ihn tun könne. Waffen reinigen? Den Kaffee kochen? Die Buchhaltung führen?
Als handle es sich um eine ernsthafte Frage, antwortete Smolek: »Wir haben keine Buchhaltung. Was ich zuweilen bedaure. Aber auf Schriftliches muß natürlich so weit als möglich verzichtet werden. Um auf die Zukunft gefaßt zu sein. Denn so perfekt kann eine Sache nicht sein, daß sie nicht auch irgendwann einmal schiefgeht. Das ist ganz natürlich, das Scheitern, welches den Kern der Zukunft bildet. Aber vorbereitet sollte man eben sein. Darum also keine Buchhaltung.«
»Würde ich Sie anzeigen wollen, wären meine Chancen wohl gering?«
»Sehr gering. Aber warum sollten Sie das tun? Ihre Empörung, die Sie hier zur Schau tragen, ist bloß ein Versuch, sich zu schützen. Nicht vor mir, sondern vor sich selbst. Vor Ihren Ansprüchen und Ideen. Überlegen Sie doch! Warum beginnt ein Mensch, der Fendi und Stifter liebt und zu Franz von Sales betet, mit dem Schießen?«
»Ich hätte nie mit Ihnen darüber sprechen dürfen.«
»Sie haben es aber getan. Und das ist gut so. Sie haben sich dem Richtigen anvertraut. Jeder andere hätte es mißverstanden. Ich nicht. Ich biete Ihnen einen Auftrag an. Ich spreche nicht von Kaffeekochen und Buchhaltung, das wissen Sie. Ich spreche davon, daß jemand getötet werden muß.«
»Nein!«
Anna Gemini sprang in die Höhe, nahm ihren Rucksack und lief hinüber zu Carl, den sie gegen seinen Willen vom Baum wegzog. Er begann zu schreien und hörte – wie damals während der Verfinsterung – nicht wieder auf. Sie ließ ihn los. Er stand jetzt auf der Stelle. Anna redete auf ihn ein, konnte ihn aber nicht dazu bewegen, sich zu rühren. Er gab sich versteinert, ein schreiender Stamm. Anna war nervös wie noch selten. Sie wollte weg von hier, weg von Smolek, der herübersah, ohne etwas zu sagen.
Anna wäre durchaus in der Lage gewesen, ihr Kind an einen anderen
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