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Ein dickes Fell

Titel: Ein dickes Fell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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ersuchen. Fehlendes Geld bereitete Sorgen. Und Sorgen waren es doch wohl, derentwegen man die Heiligen anrief. Heilige, die zuhörten oder nicht zuhörten. Und wenn sie zuhörten, war alles gewonnen. Wenn Sie aber nicht zuhörten, noch nichts verloren. Eine gute Philosophie.
     
    Als die beiden eine halbe Stunde später die Kirche verließen und den Hügel abwärts stiegen, wandte sich Anna mehrmals um und erkannte dabei, wie sehr dieses Monument aus der Ferne seine beachtliche Lockerheit im Gefüge großer, schwerer Steine verlor und nun sehr viel kompakter anmutete, gepreßt, wehrhaft, wieder in der Art eines Werkzeuges, einer futuristischen Drehbank. Dabei meinte Anna Gemini etwas zu registrieren, was sie als eine stillstehende Bewegung empfand, im Gegensatz zu einer erstarrten Bewegung oder kristallisierten Explosion. Diese Architektur hier hätte jederzeit »losfahren« können.
    Anders war die Sache mit dem Gebäude, welches etwa hundert Meter unterhalb der Wotrubakirche in einem wildwuchernden Garten lag. In einer Reihe schmucker Gärten und passabler Häuser war dies der einzige Bau, der merkliche Spuren des Verfalls erkennen ließ. Soweit überhaupt etwas zu sehen war, da die Bäume und Sträucher hinter dem rostigen Stacheldrahtzaun den Blick beträchtlich einschränkten. Die mit zwei schmalen, spitzen Türmen ausgestattete Villa schimmerte wie atomisiert durch das Blätterwerk hindurch, wobei die Vorderfront aus zwei verglasten, atelierartigen Veranden bestand, die auf Dachhöhe einen offenen Balkon trugen.
    Was auch immer Anna wirklich erkannte, oder sich bloß gedanklich zusammenreimte, sie war sofort hingerissen gewesen. Ja verliebt. Dieses Haus war ganz eindeutig ihr Tiffany-Erlebnis. Wobei grundsätzlich seit langem der Wunsch bestand, aus der kleinen Gemeindebauwohnung in ein eigenes Haus zu ziehen, also an einen Ort, an dem die Nachbarn sich in einem halbwegs vernünftigen Abstand befanden, und eben nicht hinter einer tragenden Wand, sodaß man sich mitunter nur wenige Schritte entfernt voneinander aufhielt, manchmal auch Ohr an Ohr, bloß durch das Stück Mauer getrennt, nicht aber vom Gesagten, Gebrüllten, von der Musik und den Fernsehsendungen, von erwachsenen Männern, die aus diversen Gründen nach ihrer »Mama« schrien, Weibern, die heulten oder Orgasmen zelebrierten, Kindern, die Türen zuschlugen und virtuelle Kampfroboter eliminierten. Oder von jener beklemmenden Stille, die auf all den Lärm folgte und alles mögliche bedeuten konnte.
    Nachbarn waren für Anna das allerletzte. Aber für wen nicht? Beinahe jeder ist gleichzeitig ein Nachbarnhasser und ein gehaßter Nachbar. Der Haß mag blind sein oder gemäßigt, er ist da, er ist das größte Problem, welches diese Gesellschaft wirklich hat. Und ein Haus zu besitzen, ist nun sicher besser, als sich zu zwingen, mit seinen Nachbarn gut auszukommen oder gar zu fraternisieren. Um aus der Not eine Tugend zu machen.
    Dieses Haus war ihr Haus. Sie wußte es sofort. Der ganze Zustand, das Fehlen eines Türschildes und einer Klingel, der ramponierte Postkasten, eine eingeschlagene Scheibe, steinerne Stufen, die etwas von einer zertrümmerten Klaviatur besaßen, Unkraut und wilde Rosen, das alles ließ erkennen, daß dieses Gebäude unbewohnt war. Allerdings auch, daß es ein Vermögen kosten würde, es herzurichten. Abgesehen von dem Vermögen, es anzuschaffen. Wenn es denn überhaupt zu verkaufen war.
    Aber da nun Anna Gemini überzeugt war, dieses Haus stehe nur darum so schön verlassen an dieser Stelle, um einmal das ihre und das ihres Sohnes zu werden, und sich somit jeder Gebäudeteil in Erwartung der Geminischen Kleinfamilie befand, beziehungsweise die Renovation nichts anderes sein würde als die Erfüllung eines Plans, ignorierte sie die eigenen Bedenken und erkundigte sich bei den Bewohnern des Nebenhauses nach dem aktuellen Eigentümer.
    Sie war wenig begeistert zu hören, es handle sich um eine Immobiliengesellschaft. Eine dieser netten, kleinen Firmen, in denen lauter Zeitreisende sitzen, ehemalige Raubritter und Piraten und Steuereintreiber und Gehilfen des Sheriffs von Nottingham. Das Unternehmen hatte das Objekt erst vor kurzem von den bislang zerstrittenen Erben erstanden und plante einen Abriß, der sich allerdings wegen einiger behördlicher Einwände verzögerte.
    Auch Zeitreisende, die Makler werden, sind natürlich Menschen, die bisweilen vom Schicksal geschlagen sind. Und so bedeutete der Umstand, daß Anna Gemini mit

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