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Ein dickes Fell

Titel: Ein dickes Fell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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sprechen könne.
    »Natürlich nicht«, sagte Smolek. »Aber hin und wieder darf ich mich auch um Wesentliches kümmern. Mein Alltag aber …«
    Er zog eine Mappe von einem Stoß, hielt sie stoppschildartig in die Höhe und erläuterte, daß sich darin Briefe aus den Achtzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts befänden, die von einem unbekannten Arzt stammten und an einen nicht minder unbekannten Patienten adressiert seien. Zeithistorisch aufschlußreich, aber natürlich nichts, was die Welt bewege. Derartiges zu bearbeiten, darin bestehe sein Geschäft. Nun, bearbeiten sei genaugenommen der falsche Begriff. Eher müsse von einem Ablegen die Rede sein. Er habe die Aufgabe, all diese verzichtbaren Dokumente und Kunstwerke endgültig zu Grabe zu tragen, nachdem verabsäumt worden sei, dies zur rechten Zeit zu tun. Was habe denn irgendein im Grunde bedeutungsloser, hundertzwanzig Jahre alter Briefverkehr im Jetzt verloren? Obgleich Archivar, sei er der Ansicht, daß viel zu viel aufgehoben werde. Wahrscheinlich aus dem Irrtum heraus, ein vollständiges Bild führe zu einer objektiven Sichtweise. Als wäre das überhaupt möglich. Als entspreche nicht jede Sichtweise notgedrungen einem Tunnelblick.
    »Das mag schon sein«, sagte Anna Gemini. »Wer aber will bestimmen, was aufzuheben sich lohnt und was nicht?«
    »Die Gegenstände selbst. Es ist wie mit den Menschen. Manche wollen leben, andere sterben. Manche wollen erfolgreich sein, andere in Ruhe gelassen werden. Es gibt Objekte, die man geradezu nötigen muß, erhalten zu bleiben. Die Objekte fallen auseinander, wir kleben sie zusammen. Bilder dunkeln nach, wir hellen sie auf. Die Objekte wehren sich, unternehmen immer neue Versuche des Verfalls, wir aber zwingen sie unter lebenserhaltende Glasstürze und Vitrinen, in temperierte Schaukästen und Tresore. Eigentlich widerwärtig. Lauter Komapatienten.«
    »Merkwürdige Sicht für einen Wissenschaftler.«
    »Wer sagt Ihnen, daß ich Wissenschaftler bin. Ich bin Bürokrat, genauer gesagt Totengräber. Einer, der die Dinge lebendig begräbt.«
    »… öwe!« kam es von Carl her, während er noch immer über den Bildschirm tippte. Gleichzeitig jedoch hatte er seinen Kopf aufgerichtet und sah hinauf zur vorletzten Regalreihe. Zwischen zwei Büchern, auf einem Stapel überbreiter Zündholzschachteln plaziert, befand sich ein hamstergroßer, metallener Löwe, der knapp außerhalb des Lichtkegels einer nach oben gebogenen Schreibtischlampe stand. Eigentlich schwer zu erkennen, wäre da nicht Carl gewesen, der mit sicherem Blick das Katzentier ausgemacht hatte.
    »Wozu die Zündhölzer?« fragte Anna. »Zündhölzer in einem Archiv haben etwas Unheimliches.«
    »Die lagen bereits dort oben, als ich vor dreißig Jahren hier anfing. Wie auch der Löwe. Carl ist der erste Mensch, der ihn bemerkt. Erstaunlich. Ich hatte ihn schon längst vergessen, den Löwen.«
    »Es gibt keinen Löwen, der Carl entgeht«, erklärte Anna.
    »Und mir entgehen keine Brandwerkzeuge.«
    »Eine gute Kombination«, sagte Smolek, sah auf die Uhr und schlug vor, auf eine Schale Kaffee ins Landtmann hinüberzugehen. Eines jener Wiener Kaffeehäuser, die von einer Atmosphäre leben, welche die Gäste in das Lokal hineindichten und hineinschwärmen, wie jemand, der in einem leeren Swimmingpool steht und behauptet, nie schöner geschwommen zu sein.
    Anna nahm die Einladung an. Bevor man aber ging, stieg der Archivar auf eine Leiter, holte den Löwen von seinem Hochsitz und fragte Carl, ob er ihn haben wolle. Carl sagte etwas, was Smolek nicht verstand. Das Lächeln des Jungen jedoch war eine kleine Grube voll Glück. Smolek drückte ihm die Figur in die Hand, die der Hamstergröße zum Trotz das Gewicht einer Kanonenkugel besaß. Ein Gewicht, das Carl nicht störte. Im Gegenteil. Ein Löwe, wie klein auch immer, hatte schwer zu sein.
     
    Nach diesem ersten und auch letzten Besuch in Smolek’s End und dem darauffolgenden Kaffeehausbesuch, sahen sich der »Archivar der Reste« und die beiden Geminis alle paar Wochen. Man wurde vertrauter und blieb sich dennoch auf eine unkomplizierte Weise fremd. Es war ein guter Zustand. Nicht zuletzt für Carl, der in Smoleks Nähe einen Übermut an den Tag legte, der niemals kippte.
    Smoleks Gattin spielte bei alldem keine Rolle. Sie schien nicht eigentlich vorhanden zu sein, wenngleich ihre Präsenz in anderen Zusammenhängen durchaus deutlich sein konnte. Allerdings achtete Smolek darauf, auseinanderzuhalten, was sich

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