Ein dickes Fell
Platz zu zerren. Sie war kräftiger, als es den Anschein hatte. Doch sie hielt an sich. Schlimm genug, daß sie Carl so abrupt gepackt hatte. Sie nahm seine Hand und führte ihn zurück zu jenem Baum. Carl beendete sein Geschrei und begann augenblicklich, seine Kletterversuche fortzusetzen. Anna setzte sich auf einen benachbarten Stein, der die Form eines halbierten Apfels besaß. Sie vergrub ihr feuchtes Gesicht in nicht minder feuchten Händen. Ein Streifen Licht zog wie eine Schiene über ihren Scheitel. Die Luft surrte im Stil einer Niederfrequenz. Wespen flogen vorbei, Jongleure ihrer selbst. Erste Blätter im freien Fall. Irgendwo der Herbst, der hinter einem Baum steht und bis hundert zählt.
Als Anna Gemini ihren Kopf wieder hob, war Smolek verschwunden. Mit ein wenig Phantasie konnte man erkennen, daß dort, wo er gesessen hatte, ein grauer Abdruck in der Luft klebte.
Es war ein Haus, eine hundert Jahre alte, baufällige Villa, die Anna Gemini zurück zu Smolek führte. Sie hatte das Gebäude auf einem Spaziergang entdeckt, nachdem sie mit Carl in der Wotrubakirche gewesen war, jener grandiosen Umwandlung einer Skulptur in ein Gotteshaus, welches am äußeren Zipfel einer Stadtrandgegend namens Mauer gelegen war und sich aus einer Anhöhe werkzeugartig herausschraubte.
Soeben war ein Gottesdienst zu Ende gegangen, und ein Teil der Leute strömte aus der Kirche, Sporträdern und Joggingschuhen entgegen, während kleinere Gruppen im Inneren verblieben waren und die Akustik des Raums auf die Probe stellten. Das Geplärr der Frommen tönte wie ein Dutzend wahnsinniger Glocken. Anna konnte diese Leute nicht ausstehen, junge und wieder jung gewordene Christen, welche Fröhlichkeit mit Gottgefälligkeit verwechselten, Jazzmessen mit Moderne, die Bibel mit einem Schmöker, Afrika mit einer Missionsstation eigener Träume, und welche insgesamt Gott mißverstanden, wie man einen Bettler mißversteht, indem man ihm Geld nur unter der Bedingung zusteckt, sich etwas Ordentliches zum Essen oder Anziehen zu kaufen.
Natürlich war Anna ungerecht gegen diese Leute, die sie ja nicht kannte und die da in geselligen Grüppchen beisammenstanden und halt ein wenig laut waren. Und ein wenig respektlos gegen das Licht, das zwischen den mächtigen Betonkuben ins Innere strömte und dem schweren Bau etwas Schwebendes verlieh, etwas von einer fliegenden Orgel oder einem fliegenden Mammut.
Anna führte Carl in einen menschenleeren Seitentrakt, wo man sich zwischen zwei Quadern, die Rücken gegen das Fensterglas gestützt, auf einer steinernen Sitzfläche niederließ. Anna Gemini unterließ es übrigens, vor dem Heiland auf die Knie zu sinken oder ähnliche Unterwürfigkeiten zu praktizieren. Derartiges empfand sie als frevelhaft und pervers, und man kann ruhig sagen, daß sie in diesem Zusammenhang einem antipolnischen Reflex erlag. Gerne erlag. Denn die Polen waren es ja, die am liebsten winselnd durch die Gegend krochen und deren verlogene Kriecherei – nach Annas Meinung – Gott beleidige. Die Polen, und alle, die sich polnisch aufführten, kritisierte sie als Sektierer, die nicht an den Allmächtigen, sondern allein an sich selbst und ihre Widerspiegelung im Ritual glauben würden. Das Polnische, sagte sie, arbeite an der Zerstörung der Kirche, wolle die Auflösung der Kirche zugunsten einer Zirkusnummer eitler Gebärden.
Nun, streng konnte Anna Gemini wirklich sein.
Wenn Anna betete, dann tat sie es, ohne die Hände zu falten, ohne sich vorzubeugen, ohne etwa die Lider zu senken. Sie betete, als rede sie mit jemand, der sich auf Augenhöhe mit ihr befand. Einen Gott abseits der eigenen Augenhöhe konnte sie sich nicht vorstellen. Ein solcher Gott, der irgendwie anderswo war und dem man kriechend oder aufschauend oder meditativ hätte begegnen müssen, wäre ihr als Karikatur erschienen. Oder als Gott für kleine Kinder. Sie war aber kein kleines Kind. Wenn sie betete, dann sagte sie, was zu sagen war. Wobei sie gleichzeitig die Anschauung vertrat, daß die Frage nach Erhörung oder Nichterhörung sehr wohl auch abhing von der Formulierung und Gestaltung des Gebets. Die Schönheit spielte dabei eine wesentliche Rolle. Ein schönes Gebet war ein besseres.
In der Wotrubakirche sitzend, eine Hand auf Carls Schulter, betete Anna Gemini zu ihrem Favoriten, dem heiligen Franz von Sales, betete darum, von gewissen finanziellen Problemen befreit zu werden. Was ihr übrigens in keiner Weise profan erschien, um derartiges zu
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