Ein dickes Fell
Kartäuser der verstorbenen Frau Kremser.«
»So ist es. Die alte Kremser kannte die Formel, das Emblem.«
»Vier Ziffern«, sagte Cheng, »aber nur drei Katzen.«
»Es spielt auch nur eine davon eine Rolle. Der gute Helios.«
»Helios?«
»Der Kater heißt so. Die anderen beiden sind Weibchen. Versteht sich, daß Frau Kremser sie nach den Schwestern des alten Sonnengottes Helios benannt hat. Selen und Eos. Aber die beiden sind unwichtig. Allein Helios ist von Bedeutung.«
»Bezüge zum Griechischen sind lächerlich«, sagte Cheng mit ehrlicher Verachtung.
»O ja, wie recht Sie haben«, pflichtete Lilith bei. »Aber was soll man machen? Frau Kremser durfte sich aussuchen, was sie wollte. Es waren schließlich ihre Katzen. So wie sie es war, die den wirklichen Namen Gottes kannte, den sie in einer alten Mönchsschrift entdeckt hatte. Vier Ziffern.«
»Welche wären?« fragte Cheng.
»Was denken Sie sich eigentlich?« meinte Lilith und schüttelte verwundert den Kopf.
»Es mußten viele Leute sterben«, erinnerte Cheng.
»Na und? Ist das ein Grund, Ihnen die Zahl zu nennen? Es müssen ständig viele Leute sterben. Es wäre schon ein Fortschritt, würde man immer nur etwas Eigenes töten. Den eigenen Chauffeur, den eigenen Liebhaber, den eigenen Bruder. Das mag schrecklich klingen, aber die Welt wäre erträglicher, könnten sich die Leute daran halten.«
»Die Zähne, Cheng!« schrie nun der Mann, der einst ein kleiner Gott gewesen war. »Helios’ Zähne!«
Das war sein Vermächtnis.
So schnell konnte der kurzsichtige Cheng gar nicht schauen, da hatte die Frau, die Lilith hieß, eine Pistole in der Hand, mit welcher sie augenblicklich abdrückte. Smolek gab ein Geräusch von sich, das den Verdacht nahelegte, daß er selbst bereits ein Golem gewesen war. Er schrie nicht, er stöhnte nicht, er blies bloß ein wenig Luft aus, wie bei einem Ballon. Ja, vielleicht war der Mensch, jeder Mensch, ein Ballon mit Luft. Und dann eben nur noch ein Ballon ohne Luft. Jedenfalls knickte Smolek ein, fiel auf sein Hinterteil und blieb nur darum aufrecht sitzen, weil sein rechtes Handgelenk an der Geländerstange hing. Blut sah man nicht, wohl des dicken Wintermantels wegen, hinter dem die Eintrittsstelle der Kugel klaffte.
Cheng hatte seine Pistole gezogen und hielt sie gegen die noch immer bewaffnete Frau.
»Was haben Sie denn vor?« erkundigte sich Lilith mit leichter Entrüstung, als bemängle sie einen Verstoß gegen die guten Sitten. »Ich sagte doch schon. Jeder sollte nur den töten, der ihm zusteht. Stehe ich Ihnen zu?«
»Das ist nicht der Punkt«, fand Cheng.
»Das ist sehr wohl der Punkt«, entgegnete Lilith. »Hören Sie also bitte auf, mit Ihrer Pistole in meine Richtung zu fuchteln.«
Während die Frau noch sprach, war eine weitere Person ins Freie getreten und hatte »Hände hoch!« gerufen, was sich natürlich ein wenig kindisch anhörte. Sagte man das wirklich, Hände hoch? Das klang so ungemein altbacken und auf eine dürftige Weise nach Zeichentrick. Doch wie sonst hätte man es ausdrücken sollen?
Oberstleutnant Straka sprach also in Ermangelung von etwas Passenderem: Hände hoch! Worauf er jedoch verzichtete, war die Anweisung, die Waffe fallen zu lassen. Dies tat Lilith von sich aus. Die Pistole landete im Schnee wie einer dieser toten Vögel, die in Apokalypsen von den Ästen kippen. Allerdings unterließ es Lilith, ihre Arme in die Höhe zu heben. Verständlicherweise. Es widerstrebte ihr völlig, jene plumpe Haltung des Mit-gehobenen-Armen-Dastehens einzunehmen. Außerdem brauchte sie ihre Hände.
So rasch wie sie zuvor die Waffe gezogen hatte, hob sie jetzt ein Bein an, griff ans Geländer und rutschte in der Art, mit der Damen einst auf Pferden zu sitzen pflegten, auf die Brüstung hoch. Eine Sekunde nur, in der sie wohl über die Stadt sah, dann ließ sie sich mit dem Rücken voran in die Tiefe fallen.
Sie schrie nicht. Natürlich nicht.
Straka war zu Cheng geeilt und fragte: »Verletzt?«
»Intakt«, antwortete Cheng.
Gemeinsam traten sie zum Geländer und sahen die vielen Meter hinunter zu den Gleisen der U-Bahn. Ein Schrecken ereilte sie wie aus einem Traum, der sich als echt herausstellt. Denn da war nichts zu sehen. Kein lebloser Körper, keine auf den Schienen zerschmettert daliegende alte Frau. Dann aber registrierten Straka und Cheng die Rufe mehrerer Menschen, die offensichtlich dort unten, vor hier oben aber nicht zu erkennen, zusammenliefen und nach Rettung und Polizei
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