Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Ein dickes Fell

Titel: Ein dickes Fell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
Vom Netzwerk:
oberhalb jener Panoramascheibe, vor der er mit Anna Gemini gestanden hatte. Der Ausblick hier war natürlich noch besser, wenngleich weniger gemütlich. Es blies ein kalter Wind, und der Schnee spürte sich um einiges kratziger an als auf Straßenebene. Man konnte sich wie im Gebirge fühlen. Die Luft pfiff.
    Gegen das Geländer der Breitseite hin, hinter dem Licht, das von einer schmalen Überdachung fiel und die Haufen von Schnee glitzern ließ, standen zwei Personen. Cheng ließ seine Hand samt Waffe in der Hosentasche verschwinden und trat hinüber zu den beiden: Lilith und Smolek. Wobei der Mann, der einst ein kleiner Gott gewesen war, und welcher ja noch Stunden zuvor recht selbstherrlich in einem Keller in der Lerchenfelder Straße logiert hatte, jetzt einen verzweifelten Eindruck machte. Es hatte sich, könnte man sagen, ausgegottet. Smolek war mittels Handschelle am Geländer fixiert. Trotz Mantel und Schal zitterte er. Nun, er stand wohl schon um einiges länger hier als seine Schwester, die jetzt sehr erhaben wirkte, in der Art, wie es zuvor von Chengs Halbschuhen behauptet worden war. Gleich einem Dandy im dünnen Blazer, der erklärte, niemals zu frieren. Dieser Frau glaubte man es auch. Daß sie nicht fror, und daß sie entschlossen war, zu tun, was getan werden mußte.
    »Ich bin Cheng«, stellte sich der Detektiv vor.
    »Ich weiß, wer Sie sind«, antwortete Lilith.
    »Ich kann Sie mir gar nicht im Rollstuhl vorstellen«, bemerkte Cheng.
    »So manches«, erwiderte die Dame im Schnee, »läßt sich von einem Rollstuhl aus sehr viel besser erledigen. Man sollte das nicht glauben, aber es ist so.«
    »Und jetzt?«
    »Ein paar Dinge freilich muß man im Stehen tun«, erklärte Lilith , sah neben sich und schenkte ihrem Bruder einen mitleidslosen Blick.
    Smolek reagierte postwendend und sagte: »Du alte kranke Sau.«
    Lilith lächelte das Lächeln derer, die nicht an ein Geländer angebunden sind. Dann sagte sie, an Cheng gerichtet: »Sie müssen wissen, daß mein Bruder jetzt sterben wird. Sterben muß. Das macht ihn ungnädig, verständlicherweise.«
    »Wieso sollte er sterben müssen?« fragte Cheng.
    »Hat er Ihnen nicht berichtet, worum es geht?«
    »Er will einen Golem schaffen«, sagte Cheng, »Sie wollen ihn verhindern.«
    »Genau«, antwortete Lilith. »Und weil nun heraus ist, wie es funktioniert, höchstwahrscheinlich funktioniert, muß ich die Sache zu einem Ende bringen.«
    »Was wäre so schrecklich an einem Golem?« fragte Cheng.
    »Die Masse. Die Masse an Golems. Jeder kleine Möchtegernkünstler könnte sich in der nächsten Parfümerie ein Fläschchen 4711 besorgen und seine läppischen Tonfiguren zum Leben erwecken. Halten Sie das für eine nette Vorstellung?«
    »So einfach geht es ja wohl nicht.«
    »Oh doch, vorausgesetzt der Name Gottes wird bekannt. Der richtige Name, welcher sich aus vier geheimen Buchstaben zusammensetzt. Nur, daß es sich nicht wirklich um Buchstaben handelt.«
    »Sondern um Ziffern«, folgerte Cheng. »4711!«
    »Ja, statt der Buchstaben Ziffern. Aber nicht 4711. Das war der Irrtum. Das Parfüm dient als lebenserweckendes Elixier, das ist richtig. Es ist gleich dem Atem des Magiers, welcher einer Figur aus Lehm den Odem einhaucht. Das Odeur als Odem. 4711 belebt im wahrsten Sinne des Wortes. Aber das allein genügt nicht. Es braucht den Namen Gottes, der als Pentakel – wobei wahrscheinlich auch ein Computerausdruck reicht – dem Golem an die Stirn geheftet oder ins Maul geschoben wird. Ohne den Namen Gottes können Sie 4711 verschütten, bis Sie blöde werden. Wir haben ja gesehen, was aus dem Doppelgänger meines Bruders geworden ist.«
    »… kein Doppelgänger …«, stammelte Smolek.
    »Außerdem war der Mann nicht aus Lehm geformt«, ergänzte Cheng.
    »Natürlich nicht. Aber darum geht es auch nicht. Sondern darum, daß wir jetzt wissen, wie die vier Ziffern lauten, die den Namen Gottes symbolisieren. Nicht, daß wir ihren Sinn begreifen würden. Aber ums Begreifen geht es auch gar nicht, sondern allein darum, die vierstellige Zahl zu kennen. Sie benutzen zu können. Oder darauf zu verzichten. Selbstverständlich würde sich mein Bruder für ersteres entscheiden. Und damit eine Lawine auslösen. Derartiges bleibt ja nie geheim. Kaum versieht man sich, rennen mehr Golems durch die Gegend als Haushunde. Haushunde freilich kann man kontrollieren, im großen und ganzen, Golems aber …«
    »Das Geheimnis liegt bei den Katzen, habe ich recht? Die drei

Weitere Kostenlose Bücher