Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Ein dickes Fell

Titel: Ein dickes Fell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
Vom Netzwerk:
riefen.
    »Der Wind«, sagte Cheng.
    Straka nickte. So war es anscheinend gewesen. Eine heftige Böe mußte die Stürzende, nachdem sie die hohe Verglasung passiert hatte, unter den spangenartig auskragenden Gebäudeteil gedrückt haben, sodaß der Aufprall an einer Stelle erfolgt war, die für die auf dem Dach stehenden Beobachter nicht einzusehen war. Es hatte alles seine Ordnung.
    Na gut, alles vielleicht nicht. Aber zumindest der Tod von Kurt Smolek und seiner Schwester Lilith stand im Einklang mit den gewohnten Naturgesetzen, nach denen ein menschlicher Körper weder eine durchs Herz gehende Kugel noch einen Sturz aus solcher Höhe gut vertrug.
    Natürlich sah sich Straka sofort den festgebundenen Smolek an, mußte aber erkennen, daß dem Mann nicht mehr geholfen werden konnte. Und keine weltliche Polizei ihn würde befragen können. Weshalb sich Straka an Cheng wandte und wissen wollte, was das hier zu bedeuten habe. Daß er dabei ohne ein Zeichen von Genervtheit sprach, war das eigentliche Wunder.
    »Ich habe versucht, Sie zu rufen«, sagte Cheng und berichtete, wie er Lilith gefolgt war. Und weshalb diese Frau, die jetzt auf den Gleisen der Wiener U-Bahn lag, gemeint hatte, ihren Bruder ins Jenseits befördern zu müssen.
    »Sind die Leute denn noch normal?« schüttelte Straka den Kopf.
    »Das ist kaum die richtige Frage«, meinte Cheng, welcher es übrigens unterließ, von einem Kater namens Helios zu sprechen. Davon, fand er, brauchte nicht erzählt zu werden. Umso mehr, als völlig unklar war, was Smoleks letzter Ausruf bedeutet hatte: Helios’ Zähne. Helios’ Zähne?
    »Ist Ihnen eigentlich aufgefallen«, fragte Straka, »daß immer wenn Sie mit einem Fall beauftragt werden, eine Menge ziemlich verrückter Menschen sterben? Fast schon in einem mathematischen oder geometrischen Sinn.«
    »Ich kann mir das nicht aussuchen«, meinte Cheng.
    »Sie könnten Ihren Beruf an den Nagel hängen.«
    »Ich glaube nicht«, sagte Cheng, »daß ich das wirklich kann.«
    »Sie könnten es versuchen.«
    »Wollen Sie mich zwingen oder bitten, Oberstleutnant?«
    »Na, die Geschichte ist ja noch nicht zu Ende«, erinnerte Straka. »Immerhin müssen wir noch Frau Gemini finden. Aber wenn Sie mich schon fragen, ich fände es wirklich sinnvoll, würden Sie sich ins Privatleben zurückziehen. Ich spreche als Freund.«
    »Bin ich denn reich?«
    »Lassen Sie eine Frau für sich arbeiten«, riet Straka. Er sagte das, als gebe es nichts Leichteres. Er sagte das, wie man sagt: Kaufen Sie sich einen Hamster.
    Doch Cheng wußte, Straka hatte recht. Er würde aufhören müssen. Nicht sofort, aber bald. Demnächst.

42 Alibis
    Wie nicht anders zu erwarten, war auch Smoleks Schwester Lilith sofort tot gewesen. Als Cheng und Straka die U-Bahn-Station erreicht hatten, die unter dem auf hohen Stützen stehenden Büchereigebäude sich märklinartig erstreckte, hatte man den Körper der Frau bereits von den Geleisen auf den Bahnsteig gehievt. Zufälligerweise waren gleich drei Ärzte zur Stelle gewesen, sodaß nun eine gewisse Konkurrenz entflammt war. Nicht, daß die beiden Herren und die eine Dame an der Leiche zerrten, aber es herrschte eine spürbar gereizte Stimmung. Ein unfreundlicher Disput wurde geführt, geradeso, als könnte die richtige Lagerung der Toten eine Auferstehung begünstigen. Währenddessen beklagte das umstehende Publikum alles mögliche, nicht zuletzt Architekturen, die Selbstmördern einen derartigen Anreiz bieten würden.
    Es wäre nun festzustellen, daß die Frau, die Lilith gewesen war, im Liegen noch, ja im Totsein noch, die beste Figur machte. Sie wirkte geradezu unverletzt, tipptopp in ihrem enganliegenden Kostüm, eine späte Marlene Dietrich. Jetzt, hier auf dem kalten Boden, umgeben von kleinkarierten Medizinern und einer aufgeregt keuchenden Menge, schien sie Cheng als ein letzter Gruß aus dem zwanzigsten Jahrhundert, welches ja schließlich auch sein Jahrhundert und das Jahrhundert Strakas und einiger Leute mehr gewesen war. Aber diese Epoche mit ihrer tiefen Schönheit und ihrem banalen Schrecken war nun endgültig vorbei. Und daß sie ausgerechnet mit einem Mord und einem Selbstmord geendet hatte, besaß die gleiche Stichhaltigkeit wie der Umstand, daß diese alte, tote Frau einen absolut perfekten, modischen, unbeugsamen und intelligenten Eindruck machte.
    »Ach was!« sagte Straka und tat sich gar nicht erst die Mühe an, die drei engagierten Ärzte aufzufordern, ihre Finger von der Leiche zu

Weitere Kostenlose Bücher