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Ein dickes Fell

Titel: Ein dickes Fell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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erlitt.
    Das hätte er dem Taxifahrer sagen können, in breitestem Wienerisch. Doch Cheng verzichtete auf einen solchen Überraschungseffekt. Zu clownesk. Man muß auch erdulden können.
    »Nice dog«, sagte der Taxifahrer, der den Hund ja gar nicht sehen konnte.
    Cheng schwieg. Ja, er schwieg sogar angesichts des eindeutigen Umwegs, den der englischsprechende Taxifahrer nahm, um in den zwanzigsten Bezirk zu gelangen, in eine Gegend namens Brigittenau, welche die nördliche, kniekehlenartige Ecke füllte, die sich zwischen der Donau und dem Donaukanal gebildet hatte. In der Art wie sich Hühneraugen bilden.
    Es gehört zu jenen Zufällen, von denen Anna Gemini meinte, sie würden gleich Jungtieren den Weg an die Brust der Mutter finden, daß Cheng ausgerechnet in der Adalbert-Stifter-Straße sein Quartier bezog. Er selbst ahnte natürlich nicht, wie sehr der Name dieses Mannes in die ganze Geschichte eingewoben war, wenn auch nur als Ornament. Er ahnte es nicht, und doch fühlte er sich eigenartig berührt davon, in die Straße eines Schriftstellers gelangt zu sein, dessen Werk ihm einst Trost gespendet hatte.
    Grundsätzlich muß man sagen, daß kaum ein Mensch in dieser Stadt – belesen oder nicht – an Stifter vorbeikommt. Gleich, was ein Wiener tut oder unterläßt, irgendwann stolpert er über Stifter und landet im Schoß des wuchtigen, traurigen Nationaldichters, somit auch im Schoß beschriebener Figuren, die leblos scheinen, in denen aber so etwas wie ein Kerzenstumpf brennt. Und das kennt man ja ganz gut von sich selbst. Dieses letzte Quentchen Licht. Und wenn wir es hin und wieder erkennen, dieses Licht, dieses Lichtlein, dann fallen wir geradezu um vor lauter Glück und übervollem Herzen. Darum Stifter.
    Nun, die Zeit, da Cheng ein übervolles Herz besessen hatte, lag Jahre zurück. Er stieg aus dem Taxi, hob Lauscher mit einem Unterarmgriff nach draußen und bezahlte eine unverschämt hohe Rechnung. Ohne mit der Wimper zu zucken.
    »Du Depperl!« sagte der Taxifahrer, legte ein breites Lächeln zwischen seine Hängebusenwangen und ergänzte: »Beautiful days in Vienna.«
    Daß Cheng auch jetzt noch auf eine Bemerkung verzichtete, war eigentlich übermenschlich. Allerdings meinte er, daß dieser Verzicht ihm ein Recht einräumte. Ein ganz bestimmtes. Worin genau es aber bestehen wurde, das Recht, wurde er noch sehen, wenn sich die Notwendigkeit ergab, auf selbiges zu insistieren.
    Zunächst einmal aber hob Cheng die Reisetasche auf, rief seinen alten, von der Taxihitze schläfrigen Hund und ging auf das Haus zu, dessen Adresse ihm ein gewisser Bertram Umlauf am Tag zuvor telefonisch übermittelt hatte.
    Bertram Umlauf, dreißigjährig, früher von allen nur Berti genannt, gehörte jenem Wiener Kreis an, aus dem sich der erste von Chengs Mitarbeiterstäben rekrutiert hatte. Der damals so gut wie mittellose Umlauf hatte im Dienste Chengs kleine Erkundigungen vorgenommen. Beziehungsweise hatte sich Cheng stets an Berti gewandt, wenn eine Frage allgemeiner oder spezieller Bildung zu beantworten gewesen war. Denn ausgerechnet Bertram Umlauf war der mit Abstand klügste Mensch, dem Cheng je begegnet war. Worin eine beträchtliche Ironie bestand, da Umlauf die Basis seiner Bildung dem Besuch einer Sonderschule verdankte. Mittels eines Lehrers, der, von den Behörden unbemerkt, eine kleine Elite exzellenter Sonderschulabgänger herangezogen hatte. Dieser Lehrer hätte in die Geschichte der Pädagogik eingehen können. Daß er dies nicht tat, hing auch damit zusammen, daß all seine brillanten Schüler sich in der gleichen Weise wie er selbst einer Karriere verweigerten und geradezu fanatisch auf ihrem Sonderschulstatus beharrten. Ohne dafür einen Grund angeben zu wollen. Elitärer geht es schon nicht mehr.
    Die Außerordentlichkeit des Bertram Umlauf steigerte sich noch, wenn man wußte, daß er ein Nachfahre jenes Kapellmeisters Umlauf war, welcher 1814 den umgearbeiteten Fidelio dirigiert hatte, und es auch gewesen war, der während der Aufführung von Beethovens »Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria« hinter den dirigierenden, tauben Komponisten getreten war, um dessen allein der Taubheit verpflichtete musikalische Leitung in orchesterfreundlicher Weise zu ergänzen. Wie er das schon öfters praktiziert hatte. Diesmal aber – ungewollt versteht sich – den beschämten (vielleicht auch amüsierten) Beethoven aus dem Saal getrieben hatte. Was nichts daran änderte, daß Kapellmeister Umlauf zu

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