Ein dickes Fell
zweite Raum stets als ein absurder Überfluß erschienen, ein Appendix, ein Anhang ohne echten Sinn.
Wie angekündigt war das Haustor unversperrt, und Cheng betrat ein von einer einzigen nackten Glühbirne beleuchtetes Treppenhaus, dessen schlechter Zustand – das Mauerwerk bröckelte in der Art eines kalbenden Eisbergs – nichts an einer gewissen herrschaftlichen Gestaltung änderte. Mit seinem lädierten Deckenstuck, den mäandrischen Leisten, den bauchigen Säulen, den beiden muschelig zugespitzten Nischen, in denen die Büsten alter, strenger Denker standen, sowie den breiten Stufen, die mit einer eleganten Biegung nach oben führten, wirkte das Innere dieses Hauses palastartig. Ein verkommener Palast, ziemlich märchenhaft.
Was übrigens im alten Wien nicht selten ist. Großzügig dimensionierte Treppenhäuser. Wegen all der Klaviere, die hinauf und hinunter geschleppt werden und welche tatsächlich in dieser Stadt einheimisch sind, ob auf ihnen nun gespielt wird oder nicht. Denn dies ist der tiefere Sinn Wiens, nämlich nicht etwa Wiener hervorzubringen, sondern Klaviere.
Umlaufs Wohnung lag im vorletzten Stock. Der Schlüssel steckte im Schloß. Offenkundig handelte es sich um eines dieser Häuser, in die ein halbwegs intelligenter Einbrecher nie und nimmer seinen Fuß setzte. Und tatsächlich besaß ein steckender Schlüssel wenig Einladendes, wirkte eher wie eine Warnung. Achtung Grube!
Cheng freilich war es verwehrt, um diese Grube einen Bogen zu machen. Er drehte den Schlüssel, öffnete die Türe, ließ dem blinden Lauscher den Vortritt und folgte ihm sodann in den kleinen Vorraum, der sich in die auf die Stiftersche Straße weisenden Haupträume gabelte.
Chengs Zimmer war so gut wie leer. Auf dem staubfreien Parkett lag eine Matratze samt Bettzeug, und in einer der Ecken vegetierte ein Gummibaum. Dazu kam nur noch eine kleine Bodeninstallation, die aus zwei Näpfen, mehreren Dosen Hundefutter, zwei verpackten Knochen, einer zusammengelegten Decke und einem Plastiktierchen bestand. Auf das Plastiktierchen konnte Lauscher verzichten, der Rest war okay. Lauscher hatte auch in jüngeren Jahren nie gespielt. Ihm war diese Art der Beschäftigung stets als ein Ausdruck von Verzweiflung erschienen. So verzweifelt war er aber nie gewesen, hinter toten Dingen herzujagen.
Ernährung war eine andere Sache. Ernährung war notwendig, ihr Sinn stand außer Frage, auch wenn viel Unglück in der Welt auf dieser Notwendigkeit beruhte. Mit dem Fressen beginnt der ganze Wahnsinn des Töten und Getötetwerden, der Wahnsinn einer permanenten Unruhe, des Zwangs, sich umzusehen, wachsam zu sein, neidisch, gierig, durchtrieben, nervös, unausgeglichen. Es wird immer zuviel oder zuwenig gegessen, und selbst noch das vernünftige Mittelmaß hinterläßt ein Gefühl der Leere. Aber wie gesagt, man kann darauf nicht verzichten, will man am Leben bleiben. Und das wollte Lauscher unbedingt. Selbstaufgabe hielt er für das Allerpeinlichste. Sich derart ernst zu nehmen.
Andererseits war Lauscher kein verfressener Typ. Und als Cheng nun einen der Näpfe mit Fleisch füllte, blieb Lauscher in seiner für ihn typischen Art vor der Speise stehen und unternahm zunächst einmal gar nichts. Weder faltete er seine Nüstern auf, noch verstärkte sich sein Speichelfluß. Er stand einfach da, wie der erste oder letzte Hund, wie das fossilisierte Leben. Und dann, als etwas wie ein kleiner Heiligenschein über seinen gewaltigen Ohren aufzuleuchten drohte, senkte er seinen Kopf, öffnete nußknackerartig sein Maul und schlug seine erstaunlich gut erhaltenen Zähne in das ungehörig weiche Fleisch.
Währenddessen ging Cheng unter die Dusche, wusch sich ausgiebig und schlüpfte danach in ein frisches weißes Hemd. In der Folge führte er seinen Kopf durch die Schleife einer Krawatte, die allen Ernstes noch von seiner Wiener Ex-Frau gebunden worden war. Einen solchen Knoten aufzulösen, verbot sich einem Einarmigen. Und im Grunde waren die Knoten von Chengs kleiner Krawattensammlung – die Knoten der Frauen in seinem Leben – ihm lieb und teuer. Auch war es ja kein Zufall gewesen, daß Cheng ausgerechnet diese bestimmte Krawatte auf seine Wienreise mitgenommen hatte. Er war nun mal ein sentimentaler Bursche, der trotz aller Fluchtwege, auf die er gelangt war, mit seiner Vergangenheit nicht brechen konnte.
13 Alte Küche, alte Kartäuser
Diese Vergangenheit kam ihm nun deutlich zu Bewußtsein, als er aus dem Haus trat und sich in der
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