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Ein dickes Fell

Titel: Ein dickes Fell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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aufkeimenden Dunkelheit und dem abklingenden Regen stadteinwärts bewegte. Und zwar ohne Lauscher, dem er eine späte Wanderung nicht zumuten wollte. Lauscher lag wieder vor einem Ofen, auf seinem Polster, eine Windel um den Unterleib geschnallt, und bewältigte schlafend die Zeit, die ihm blieb.
    Es dauerte nicht lange, da steckte die Stadt in der Nacht fest, und das Licht aus Röhren und Fenstern verlieh ihr eine feierliche, milde Stimmung, verstärkt durch den Umstand, daß Sonntag abend nur wenige Menschen die Straßen bevölkerten. Am Donaukanal entlang – der mehr stand als floß, ein Lauscher unter den fließenden Gewässern –, bog er an der Roßauer Kaserne ab, passierte die Rückseite des burgartigen Backsteinbaus, hielt ein wenig vor der zweitürmigen Gestalt der Votivkirche inne und marschierte dann auf der Ringstraße hinüber zu Rathaus und Parlament, um sich hinauf zur Lerchenfelderstraße zu begeben, und somit in eine Gegend, die er bestens kannte. Hier befand sich das Haus, in dem er viele Jahre sein Detektivbüro gehabt hatte. Samt Wohnung, die beinahe unerkannt in dieses Büro eingebettet gewesen war. Wie bei Beuteltieren.
    Der einarmige und hundelose Detektiv stand jetzt vor dem fünfgeschossigen Gründerzeitbau und sah hinauf zu den erleuchteten Fenstern. Er verspürte große Lust, zu klingeln und nachzusehen, wer jetzt dort lebte und in welcher Weise das Vergangene aufgehoben worden war. Natürlich gehörte sich das nicht, wildfremde Menschen zu stören, schon gar nicht Sonntag abends.
    Doch die Neugierde überwand das gute Benehmen. Cheng trat an die Gegensprechanlage. Zu seiner Zeit hatte es das nicht gegeben. Glücklicherweise wurden neben den Namen der Mieter auch deren Türnummern ausgewiesen, sodaß Cheng gleich wußte, wo er zu läuten hatte.
    Als sich die kleine Stimme eines Mädchens meldete und in der wichtigtuerischen Art einer Zehnjährigen einen langen Namen nannte, erschrak Cheng. Mit einer Familie hatte er nicht gerechnet. Die Wohnung war nicht groß, zwei Zimmer, enge Nebenräume. Nein, Familie überraschte ihn.
    Noch hatte er die Möglichkeit, diese unsinnige und ungehörige Idee aufzugeben, unschuldige Bewohner zu überfallen. Statt dessen erklärte er dem Kind, mit dessen Vater oder Mutter sprechen zu wollen.
    »Wieso?« fragte das Mädchen.
    »Weil ich früher hier gewohnt habe«, sagte Cheng ein wenig barsch. Ihm widerstrebte, irgendeiner Göre Auskunft zu geben.
    »Sind Sie Jude?«
    Meine Güte, dachte Cheng und stellte sich eines dieser altklugen Kinder vor, die in Geschichtsbüchern stöberten, um dann mit einem Halbwissen hausieren zu gehen. Und die ständig falsche Schlüsse zogen.
    »Was ist denn los, Lena?« hörte Cheng die Stimme einer erwachsenen Frau aus dem Hintergrund. »Gib mir den Hörer, Schätzchen.«
    »Da ist ein Mann, der unser Haus zurückhaben will. Du darfst ihn nicht reinlassen.«
    »Ach was«, sagte die Frau, griff dann wohl nach dem Hörer und sprach: »Ja?«
    Cheng nannte seinen Namen, entschuldigte sich für die Störung und beschrieb sein Anliegen. Er sei keineswegs gezielt hierher gekommen, sondern mehr zufällig in seine alte Wohngegend geraten, und da habe es sich eben ergeben … Cheng wußte nicht weiter.
    »Kommen Sie rauf«, schlug die Frau vor.
    »Sehr freundlich«, sagte Cheng erleichtert und drückte gegen die surrende, aufspringende Türe.
    Er stellte fest, daß das Haus sich in einem sehr viel besseren Zustand befand. Eine geschmackvolle Renovierung war vollzogen worden. Auch jener Geruch, den alte Menschen verursachen, indem sie alles mögliche anbrennen lassen, war verschwunden. Auf dem dunklen, glänzenden Holz der hohen Wohnungstüren prangten Schilder, auf denen jede Menge Vornamen malerisch aufgezeichnet waren. Väter, Mütter, Kinder, wahrscheinlich auch Meerschweinchen und Kaninchen präsentierten sich solcherart dem Vorbeigehenden. Zudem waren ein Zahnarzt und eine Anwaltskanzlei eingezogen.
    Zahnärzte und Anwälte, stellte sich Cheng vor, würden die letzten herkömmlichen Berufe sein, wenn alles andere dem Fortschritt zum Opfer gefallen war. Darum auch würde dieser Fortschritt nichts nutzen. Diese neue Welt keine bessere sein.
     
    Die Frau und das Kind standen an der Türe. Das Kind feindselig, offensichtlich noch immer den Juden witternd, der irgend etwas zurückhaben oder auch nur einen Vorwurf anbringen wollte. So chinesisch der auch anmutete. Die Mutter hingegen erwies sich als freundlich, erklärte, sich an Chengs

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