Ein dickes Fell
brillanten oder einen schwachsinnigen Gedanken zurück, andere wiederum nicht mehr, als einen Rotweinfleck auf dem Tischtuch, hingestreute Asche, Spritzer von Bratensaft. Aber irgend etwas vermacht ein jeder. Das war wohl auch der Grund, daß der Herr Stefan prinzipiell keine Tischtücher auflegte. So konnte er die Spuren seiner Gäste auf die schnellste Weise mit einem feuchten Lappen beseitigen.
Ein brillanter Gedanke war freilich nicht so leicht zu bereinigen. So wenig wie ein Geruch. Und genau das war es, was Kurt Smolek, der österreichische Beamte in geheimen dänischen Diensten, hier zurückgelassen hatte, einen Geruch. Wobei dieser Geruch auch schon vorher präsent gewesen war, als Smolek noch an seinem Platz gesessen hatte. Doch erst mit dem Verlassen des Lokals war das Odeur zur vollen Wirkung gereift, gleich einer Flamme, die sich geruchlich ja dann am stärksten auswirkt, wenn man sie ausbläst.
Odeur war genau das richtige Wort, weil nämlich ein altes Wort. Auch jener Smoleksche Duft hatte etwas Altes, etwas Gestriges an sich. Zudem erfüllte er beide Bedeutungen des Begriffs. Er war so wohlriechend wie seltsam. Seltsam am Rande zum Unheimlichen. Zumindest entsprach dies Chengs Empfindung, wobei er allerdings nicht sagen konnte, was er da eigentlich roch. Es war allein eine gewisse zitronige Schärfe und Frische, die er feststellte, und zugleich etwas Blumenhaftes. Kein Rasierwasser. Eher etwas Medizinisches. Etwas, das er kannte. Aus seiner Kindheit kannte.
Aber Cheng kam nicht drauf. Und weil es ja auch keine Bedeutung hatte, verschloß er gleichsam seine Nase und versank in die Speisekarte, während sich nun – als gebe Smoleks Verschwinden dafür Anlaß – das Lokal füllte. Junge Leute kamen herein, wohl Studenten, wenn man den abendlichen Sonntag bedachte, den die meisten Wiener vor Fernsehapparaten, auf Autobahnen oder mittels eines frühen Schlafs zu bewältigen versuchten. In den abendlichen Sonntag pflegte sich die Depression zu mischen. Leider auch auf Autobahnen.
Nicht aber im Adlerhof. Zumindest nicht an diesem Abend. Ein Vergnügen ging durch den Raum, eine Begeisterung für die eigene untypische Sonntagsexistenz. Was nichts daran änderte, daß sich Herr Stefan mit der Aufnahme der Bestellungen die übliche, wohl dosierte Zeit ließ und präzise Analysen zu diversen Sonntagsspielen abgab.
Als dann Cheng an der Reihe war und sogenannte Kaspreßknödel mit Sauerkraut bestellte, notierte Herr Stefan diese Order mit einer derartigen Fürsorge auf einen eng beschriebenen Block, als nehme er eine punktgenaue Personenbeschreibung seines Gastes vor. Aber vielleicht war genau das ja auch der Fall.
Soviel noch: Die Kaspreßknödel – Kartoffelpuffer in der Art einer mächtigen, dicken Zunge – waren ein Gedicht. Was nicht zu wundern braucht, angesichts eines Planeten, der ein Wirtshaus ist. Und umgekehrt.
15 Ein verirrter Sommer
Als Cheng am nächsten Morgen erwachte, konnte er sich zunächst einmal kaum rühren. Woran sicher nicht die Kartoffelzunge von Herrn Stefans Kaspreßknödel schuld war, eher die harte Matratze von Bertram Umlaufs japanischem Gästebett. Daß man neuerdings die Vorteile derartiger Matten in Frage stellte, wunderte Cheng gar nicht. Auch wenn es hieß, Millionen Japaner könnten nicht irren. Konnten sie doch. Ununterbrochen irrten Millionen. Das Irren von Millionen schien geradezu das Gesetz in der Welt zu sein.
Es war kalt im Zimmer. Cheng trat an den Ofen und erhöhte die Wärmestufe. Das Gerät sprang mit einem Geräusch an, das sich eher nach einem Absturz anhörte, als sei eine Ente oder ein Supermann ins Trudeln geraten. Dann aber wurde der Chorgesang aufrecht stehender Flammen hörbar. Wie auch ein verwandter Ton aus Lauschers leicht geöffnetem Maul. Gleichzeitig vollzog er eine minimale Bewegung, die ihn noch näher an den Heizkörper heranführte. Seine Augen blieben geschlossen.
Cheng, nackt bis auf die Unterhose, beugte sich hinunter zu seinem dösenden Hund und wechselte ihm die Windel. Wozu ein zweiter Arm nicht geschadet hätte. Dennoch arbeitete Cheng mit der Routine trainierter Eltern. So sehr er im Grunde einarmige Taschenspielertricks verabscheute, verfuhr er in dieser Sache geradezu akrobatisch. Lauscher wiederum blieb bei alldem vollkommen gefaßt.
Nachdem das erledigt war, trat Cheng ans Fenster, vergrößerte den Spalt zwischen den Vorhängen und sah hinaus auf die Adalbert-Stifter-Straße, die im trüben Licht eines von Schneewolken
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