Ein dickes Fell
beschatteten und von fallenden Flocken gemaserten Tages ziemlich naturhaft anmutete. Trotz Autoverkehr. Aber natürlich besaßen auch Autos eine lebendige Ausstrahlung, erst recht, wenn sie im Schneetreiben ihre eigentliche Form verloren und sich in der Art von Rotwild bewegten. Allerdings blieb der Schnee nicht liegen, zu warm war der Boden, zu gering die Masse der Flocken. Das gab Cheng Hoffnung. Immerhin hatte er vor, Skateboarder zu beobachten.
Tatsächlich hörte es bald wieder zu schneien auf, sodaß eine bloß feine Schneedecke begünstigte Flächen wie Gartenanlagen oder die Dächer geparkter Wagen seidig überspannte. Dieser erste Schnee war gleich einem Fehlstart gewesen. Die Läufer waren aus ihren Startblöcken regelrecht herausexplodiert, um bald darauf in ein sinnliches Traben zu verfallen und kehrtzumachen. Aber das Publikum besaß nun eine Ahnung, wozu diese Muskelpakete in der Lage sein würden, wenn sie es schafften, gleichzeitig aus ihren Löchern zu springen.
Später am Vormittag machte Cheng einen kleinen Spaziergang, damit Lauscher sein Quentchen frische Luft konsumieren konnte. Auf der Adalbert-Stifter-Straße stadteinwärts gelangten Mensch und Hund über den Donaukanal zur sogenannten Spittelau, einem grandios verbauten Flecken, auf dem sich auch jene berühmte und berüchtigte Müllverbrennungsanlage befand, deren Fassade und hoch aufragender Schornstein von einem sehr späten Jugendstilkünstler umgestaltet worden waren. Derart, daß man meinte, bei dem Müll, der hier verbrannt wurde, handle es sich um Kristallvasen von Fabergé, Kommoden aus dem achtzehnten Jahrhundert, Stühle der Wiener Werkstätte und irgendeinen famosen Inka-Goldschatz. Es gab natürlich eine Menge gebildeter Menschen, die eine solche Architekturlüge schrecklich, ja abstoßend fanden. Allerdings war jener späte Jugendstilkünstler vor einiger Zeit gestorben, und als orthodoxer Wiener, der Cheng war, vertrat er die Anschauung, daß man über einen Toten nichts Schlechtes sagen dürfe. Auch nicht über seine Schornsteine. Und daran hielt er sich. Sogar in Gedanken, als er nun mit seinem bereits erschöpften Hund an dem pittoresken Komplex vorbeispazierte.
Lauscher war jetzt ohne Windel, weshalb er von seinem Herrchen auf ein schmales Stück Wiese geschickt wurde, das unter einem Schleier aus Schnee trauerte. Man befand sich auf dem Josef-Holaubek-Platz, benannt nach einem Wiener Polizeipräsidenten, der bezeichnenderweise dadurch berühmt geworden war, in der saloppesten Weise mit zwei entlaufenen Häftlingen geplaudert zu haben. Vor allem der Umstand, sich den verschanzten Kriminellen mit »Ich bins, der Holaubek, euer Präsident« vorgestellt zu haben, machte ihn zur Legende und schien auch die Vermutung zu bestätigen, daß in einem derart von der Bürokratie beherrschten Land ein Polizeipräsident eine absolute Autorität darstellte und in gewisser Weise auch die Obhut über die Unterwelt für sich in Anspruch nehmen konnte. Darüber hinaus ist diese Episode – in der Tat überredete der Präsident seine Verbrecher zur Aufgabe – ein schönes Beispiel für den wienerischen Hang zum Operettenhaften. Ganz im Gegensatz zum Opernhaften, wie es in vielen anderen Städten vorherrscht und Plätze wie Berlin, Tokio oder Rio als gespenstische, humorlose und in lauter tödliche Arien verstrickte Orte erscheinen läßt. Daß auch Wien etwas von einer Oper hat, ist ein großer Irrtum. Selbst die Wiener Staatsoper ist natürlich eine Operettenbühne, auf der noch das ernsthafteste Musikwerk fröhlich und belanglos wirkt. Noch der schwergewichtigste Tenor verfällt hier in einen Bonvivant-Stil.
Leute wie der selige Unser-aller-Polizeipräsident Holaubek haben eindrucksvoll bewiesen, wie wenig in dieser Stadt das Dramatische eigentlich zählt und wie übermächtig das Komische und Leichtfüßige ist.
Der Hund Lauscher bewegte sich vorsichtig und unglücklich über die mit jedem Schritt einbrechende Schneefläche und ging sodann in eine halbe Hocke, um mit einem Ausdruck des Ekels seinen Darm zu entleeren. Der Ekel galt dem Akt im ganzen, der Entleerung wie dem Ort der Entleerung. Die Privatheit einer Windel wäre Lauscher sehr viel lieber gewesen. Er begriff nicht, weshalb sein Herrchen ihm diese Ausgänge zumutete. Welchen Zweck sie erfüllten. Wollte er nicht annehmen, pure Bosheit sei im Spiel.
Lauscher registrierte, wie das kleine Stück Kot durch die zarte Verkettung der Schneekristalle brach. Und auch wenn
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