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Ein dickes Fell

Titel: Ein dickes Fell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Bereich der Filmleinwand, sodaß das Publikum sich umgeben von lebenden Denkmälern denken konnte. Das Filigrane und Flüchtige der Brüstungen ergab sich aus der Tatsache, daß es sich dabei um bloße holographische Projektionen handelte und somit die Musiker ungeschützt im Freien standen. Aber es waren nun mal Berufsmusiker und daher einiges an Zumutungen gewohnt.
    Ein Teil dieser wie in einem barocken Lustgarten aufgestellten Erhöhungen beherbergte konventionelle Orchesterinstrumente und konventionell, also mit Frack und Fliege und bodenlangem Abendkleid ausgestattete Musiker und Musikerinnen. Dazwischen aber trugen die Podeste auch eine vierköpfige Rockband, einen ältlichen Zitherspieler, eine Frau, die eine Waschmaschine bediente sowie einen Jungen, der ein Didgeridoo in Händen hielt.
    Die Stimmung war bestens, sehr viel besser, als man das von üblichen Konzerten gewohnt war. Auch hier noch wurden Fernsehkameras durch den Raum getragen, leuchteten Scheinwerfer auf, knipsten Pressefotografen, trieben Wellen vielstimmigen Gekichers und Gelächters dahin.
    Das Licht ging abrupt aus, der Lärm verebbte augenblicklich. Endlich war es wie bei einem richtigen Konzert. Niemand raschelte, niemand sprach, letzte Huster wurden in vorgehaltene Hände gepreßt. Siebenhundertfünfzig Menschen befanden sich in konzentrierter und respektvoller Erwartung. Immerhin stand eine Symphonie auf dem Programm, also ein Produkt, dem der Begriff der Würde, der Übermenschlichkeit und des selbst noch im Humor spürbaren Leidens wie Blut durch die Venen trieb.
    Nachdem das Publikum eine halbe Minute lang in dieser Dunkelheit – in diesem symphonischen Ausgangspunkt, dieser tonlosen Singularität – belassen worden war, eingelegt in die eigene Stille, begann ein Glimmen, welches einzig und alleine die goldenen, holographischen Geländer wiedererstehen ließ. Erst als diese Geländer eine Weile in der schwarzen Luft gestanden hatten, fiel ein schwacher, stärker werdender Schein von unten her auf die Musiker und begleitete zunächst einmal das musikalische Erwachen der Orchesterinstrumente. Ja, es war tatsächlich so, als belausche man die morgendlichen Regungen und Zuckungen all dieser Resonanzkörper, dieser Klarinetten, Flöten und Hörner. Es vollzog sich ein Gähnen und Strecken und Wälzen. Man konnte dieser Ouvertüre jenen Widerwillen anhören, der darin besteht, aus dem Bett zu müssen, und zwar viel zu früh. Man hätte meinen können, die Instrumente würden sich einen Moment lang der Symphonie verweigern. Sich Decken über den Kopf ziehen, bocken, in kindlicher Weise Krankheiten vortäuschen, um nicht aufstehen und in die Schule zu müssen.
    Erst mit dem zweiten Satz, dem eintretenden »Vormittag«, ergab sich eine Bejahung, eine Struktur, ein Klangmuster und eine zeitweilige Heftigkeit. Zudem griffen nun die Rockband, das Didgeridoo, der Zitherspieler und die Waschmaschine in das Geschehen ein, wobei der Klang der Waschmaschine ganz eindeutig einen elegischen Charakter besaß. Es war anfangs nur schwer zu glauben, aber der Bedienerin dieses handelsüblichen Haushaltsgeräts gelang es tatsächlich, einen melancholischen Ton anzustimmen, sodaß sich der Eindruck eines dümmlichen Gags rasch verlor. Die Musik der Waschmaschine stellte mehr als alles andere einen Tribut an die Wiener Klassik dar.
    War zunächst der Dirigent, also Apostolo Janota, unsichtbar gewesen, so sah man ihn später – mit Beginn des »Vormittags« – auf der Filmleinwand, riesenhaft und in Echtzeit. Wobei das mit der Echtzeit eine bloße Vermutung darstellte, denn der leibhaftige Janota blieb dem Publikum verborgen. Es war aber davon auszugehen, daß er von einem der Nebenräume aus, durch die Live-Übertragung mit seinen Musikern verbunden, diese dirigierte. Etwas anderes als Echtzeit hätte ja eine reine Staffage, eine nichtige Show bedeutet. Und davon wollte nun einmal niemand ausgehen.
    Bertram Umlauf hatte recht gehabt. Der Mann sah gut aus, bewegte sich gut, schnitt gute Grimassen und wirkte bei allem Pathos weder wie ein Schauspieler noch wie ein irrer Weltenlenker, während ja die meisten Dirigenten eine Leidenschaft vorspiegeln, die das Göttliche betonen soll, aber nur eine gewisse Ungelenkigkeit bestätigt. Einen gewissen Hang, die Arme zu heben.
    Wenn man je einen Dirigenten gesehen hatte, der sich elegant bewegen und dabei auf jene als genial mißverstandene mimische und gestische Blödelei verzichten konnte, dann war es Janota. Was man

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