Ein dickes Fell
er versuchte, der Bitte Anna Geminis zu entgehen. Zu sehr erinnerte diese Szene an jene, die kurz vor der Ermordung Botschafter Gudes stattgefunden haben mußte. Als nämlich dessen Gattin Magda die Obhut über einen behinderten Jungen übernommen hatte.
Nicht, daß Cheng dachte, es drohe ein weiteres Attentat, bloß weil man sich an einem Ort der Kultur befand. Auf einen Albertina-Mord brauchte nicht notwendigerweise ein Gartenbau-Mord zu folgen. Dennoch verspürte er ein deutliches Unbehagen, das sich aus der drohenden Wiederholung einer bestimmten Konstellation ergab. Und eine solche Wiederholung wollte Cheng vermeiden. Weshalb er Anna Gemini darauf aufmerksam machte, ihren Sohn gerade mal eineinhalb Stunden zu kennen. Ganz abgesehen davon, daß Carl nicht den Eindruck mache, gleich tot umzufallen, wenn man ihn ein paar Minuten alleine ließ.
»Das ist eben ein Irrtum«, widersprach Anna.
»Wie? Er würde tot umfallen?«
»Er würde kollabieren. Er benötigt einen Menschen, der mich ersetzen kann. Wobei er diesen Menschen keine eineinhalb Stunden zu kennen braucht. Da genügt ein Augenblick. Aber dieser jemand muß für ihn da sein, muß meinen Platz einnehmen. So ist das. Das ist die Regel. Und daran muß man sich halten. Hören Sie also bitte auf, lieber Herr Cheng, hier den Schwierigen zu spielen. Ich verlange ja nicht, daß Sie Carl adoptieren. Sie sollen ihm bloß Gesellschaft leisten, solange ich fort bin.«
Gerne hätte Cheng eingewandt, daß Carl augenscheinlich wenig Probleme damit habe, ohne Mutter oder Mutterstellvertreter sich auf einen Skateboard-Hügel zu begeben. Freilich war auch klar, daß Carl dort oben im Kreis seiner Ordensbrüder stand, und nicht in einem Haufen erregter Premierengäste. Davon abgesehen sah Cheng es als ungünstig an, seine Kenntnisse offenzulegen und von der Wotrubakirche zu sprechen. Weshalb er sich nun dazu erblödete, sich bei Anna Gemini zu erkundigen, was sie denn eigentlich vorhabe.
»Na, was glauben Sie denn, wo ich hingehe?« fragte Anna und verdrehte die Augen. Sodann setzte sie dem Gespräch ein Ende, indem sie ihren Sohn auf die Wange küßte und ohne ein weiteres Wort zu verlieren zwischen den engstehenden Musikliebhabern aus dem Saal drängte.
19 Die Verachtung
Cheng war sogleich aufgefallen, daß die Toiletten auf der anderen Seite lagen, wenngleich natürlich auch draußen im Foyer welche untergebracht sein mußten. Jedenfalls hatte Anna Gemini einen längeren, umständlicheren Weg gewählt. Andererseits war nicht explizit die Rede davon gewesen, daß sie eine Toilette oder einen Waschraum aufsuchen wollte. Sie hatte dies bloß mittels einer Augenverdrehung als naheliegend dargelegt.
Nun, manchmal war das eigentlich Naheliegende sehr viel weiter entfernt als die nächste Toilette.
Cheng stand da und wußte nicht, was er denken sollte. Wieder einmal in seinem Leben war er in eine Art von Überfall geraten. Und das war ja wohl ein Überfall gewesen, ihm die Sorgfaltspflicht über den Jungen zu übertragen. Was er nicht leiden konnte. Hunde und Katzen und Kunden, das ging in Ordnung. So ein Kind aber …
Wie um seine Mutter zu bestätigen, war Carl näher an Cheng herangerückt, keineswegs ängstlich oder gar zitternd, sondern mit jener Selbstverständlichkeit, mit der man inmitten einer Menschenmenge die Nähe eines Freundes oder Familienmitglieds sucht.
Schwer zu sagen, dachte sich Cheng, was geschehen würde, wenn er den Jungen einfach stehenließ. Würde er wirklich kollabieren? Würde er heulen und schreien und die Leute vom Sicherheitsdienst auf den Plan rufen? Oder ganz einfach zusammenbrechen? Oder etwas tun, wofür man Cheng später zur Rechenschaft ziehen würde? Und dies alles sodann vor dem Hintergrund, daß Anna Gemini sich tatsächlich auf eine der Toiletten begeben hatte und dabei aus irgendeinem vollkommen simplen Grund hinaus ins Foyer gegangen war.
Nun, im Grunde sprach nichts dafür, Carl alleine zu lassen. Wäre da nicht die Augenscheinlichkeit dieser zunächst angedrohten und dann eingetretenen Wiederholung gewesen. Eine Wiederholung, die Cheng irritierte.
»Hör zu, Carl …«, begann er.
»Huuu!« sagte der Junge und etwas, das wie »Preßburg« klang, wobei er seinen Kopf in der biegsamen Art einer Zeichentrickfigur dem Detektiv zuschob.
»Ich würde gerne … Die Luft hier ist scheußlich. Ich würde gerne nach draußen gehen.«
»Geeehn wa!« bestimmte Carl. »Russ usn Bus!«
»Ja!« sagte Cheng und wollte Carl an die
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