Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Ein dickes Fell

Titel: Ein dickes Fell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
Vom Netzwerk:
wenig wie den Blick des Jungen, seine ganze Haltung. Er hätte nicht sagen können, ob Carl vollkommen desinteressiert oder vollkommen konzentriert war, ob er als ein kleines Aas oder kleiner Engel diese Welt bereicherte oder belastete. Und am allerwenigsten hätte er Carls Behinderung bewerten können. Ob er es hier tatsächlich mit einem zurückgebliebenen oder nicht vielmehr mit einem durch und durch listigen Menschen zu tun hatte, der auf der eigenen Behinderung geschickt balancierte, geschickter als auf seinem Skateboard.
    Natürlich bemerkte Cheng das Verzogene der Mundwinkel, die Schrägstellung der Augen und der Schultern, einen Anflug von Basedow, vernahm den Laut, den Carl ausstieß und welcher wie die Parodie auf Chengs eigenes »Servus Carl, freut mich!« klang. Aber was hieß das? Es mit einem Trottel zu tun zu haben?
    Trottel waren anders. Sehr viel eindeutiger. Cheng wußte das, er war in seinem Leben einer Menge von ihnen über den Weg gelaufen. Nein, ein wirklicher Trottel funktionierte wie eine voraussehbare, chemische Reaktion. Man brauchte nur zu wissen, womit man ihn zu füttern hatte. Im Falle Carls aber – das war Cheng bereits bei der Wotrubakirche in den Sinn gekommen – fehlte diese Berechenbarkeit. Carl war undurchsichtig. Richtige Trottel hingegen aus Glas.
    Dazu kam ein Zwinkern Carls, welches genausogut eine nervöse Zuckung wie eine spöttische Geste bedeuten konnte. Auch besaß Carls Händedruck weder eine glitschige noch eine knochenlose Konsistenz, noch spürte er sich ungestüm oder übermäßig fest an. Ein Händedruck wie von einem anderen Stern.
    Sehr kartäusermäßig, also nicht einmal besonders. (Dieses Nicht-besonders-sein-wollen der Kartäuser – aller Kartäuser – erscheint paradoxerweise als vollkommen fremdartig, als nicht von dieser Welt.)
     
    »Mir ist kalt«, sagte Anna. »Gehen wir!«
    »Gerne«, antwortete Cheng, der zwar seine Schuhe gewechselt hatte und einen Wintermantel trug, sich jedoch vom schwermütigen Herumstehen im Stadtpark einen unterkühlten Körper geholt hatte.
    Wenn nun die Anwesenheit Carls für Cheng ein Problem war, dann darum, weil dies die Vermutung bestärkte, es handle sich bei Anna Gemini um jene Person, die mit Unterstützung der Wiener Polizei aus der Albertina geleitet worden war. Und damit in der komfortabelsten Weise einen Tatort verlassen hatte. Eine Frau, deren Eigenart es zu sein schien, ihren Sohn an einen jeden Ort, zu einer jeden Veranstaltung mitzunehmen. Ganz gleich, welche Umstände sich daraus ergaben.
    Die Umstände, die nun als erstes entstanden, waren freilich für die meisten der Gäste gegeben. Man mußte sich drängeln, mußte im Dampf einer menschlichen und klimatischen Feuchtigkeit stehen, um vorbei an der Security in den Saal zu gelangen. Vorbei an Schnöseln, welche nicht nur einfach die Karten abrissen, sondern zusätzlich die Eintretenden studierten, als sei eine Paßkontrolle im Gange.
    Einer dieser Schnösel faßte Cheng am Arm. Ein Reflex, mag sein. Jedenfalls ein unglücklicher Reflex, da Cheng ja nicht nur nichts Verbotenes in jener Tasche trug, in die sein Ärmel mündete, sondern auch der Ärmel leer war. Was der Schnösel endlich merkte und zurückzuckte, als hätte ihn etwas gestochen.
    Cheng verzichtete darauf, sich aufzuregen. Er lächelte nicht einmal, sondern tat, als sei rein gar nichts geschehen.
    Es war Anna Gemini, die den Kartenabreißer einen Kretin hieß.
    »Na, hören Sie mal«, beschwerte sich der Schnösel.
    »Halt’s Maul!« sagte Anna. Es klang überzeugend. Ein Widerspruch schien unmöglich. Geschah auch nicht, da der Schnösel sich fluchtartig den Nachfolgenden zuwandte.
    »Wie kommen Sie eigentlich zu gleich drei Karten?« fragte Cheng, nachdem man in einer der vorderen Reihen, die Randsitze der rechten Seite belegend, Platz genommen hatte.
    »Ich habe eine Freundin ausgeladen.«
    »Das beschämt mich jetzt aber.«
    »Keine Übertreibungen. Die Freundin wird es überleben.«
    Anna und Cheng sprachen über Carl hinweg, der tief in den Polstersessel gerutscht war, die Knie gegen den Vordersitz gestemmt, die Augen halb unter seiner Mütze vergraben, während er den Klang einer Violine imitierte.
    Eine solche Violine wurde soeben von einem der Musiker gestimmt. Er stand zusammen mit drei, vier Kollegen auf einem weißen, etwa zwei Meter hohen, mit einer filigranen goldenen Brüstung ausgestatteten Podest. Derartige Podeste waren über die Seiten des gesamten Raumes verteilt, auch im

Weitere Kostenlose Bücher