Ein dickes Fell
Hand nehmen wie einen Fünfjährigen.
Es war dann aber der Junge, der sich mit einem freundlichen Grinsen bei Cheng unterhakte und gewissermaßen die Führung übernahm. Solcherart ergab sich ein ungemein familiäres Bild, obgleich ja deutlich das Fehlen einer biologischen Zugehörigkeit zu erkennen war. Und dennoch schienen die beiden in diesem Moment in einer freundlichen Weise aneinandergekettet zu sein. Ein eleganter, einarmiger Chinese und ein bleicher Junge in Weltraumhosen. Woraus sich der Eindruck einer symbiotischen Qualität ergab, wie sie zuvor bereits für Janotas Musik beansprucht worden war, die Qualität einer Flechte.
Auch im Foyer herrschte Großbetrieb, als hätte sich das Publikum mit dem Ende der Musik verdoppelt. Es war ungemein eng und laut. Ein Patronengürtel von Stimmen umspannte den Raum. Die Leute explodierten geradezu vor guter Laune.
Diese Enge, dieser Mangel an guter Luft, überhaupt an Luft, war in keiner Weise geeignet, einen klaren Gedanken zu entwickeln. Ein solcher war aber dringend vonnöten. Cheng mußte sich bewußt werden, was er eigentlich glaubte, was genau es war, das ihn in diese Panik versetzte, und was er zu unternehmen gedachte. Gefühle allein waren zu wenig. Auch konnte er schwerlich aufs Damenklo gehen, um die Anwesenheit Anna Geminis zu überprüfen. Eher stellte sich die Frage, wie lange eine normale Frau sich auf einer solchen Toilette aufhalten konnte. Beziehungsweise vor den Spiegeln des Waschraums. Und ob man im Falle Anna Geminis überhaupt von einer normalen Frau sprechen durfte.
»Dieser verdammte Smolek!« sagte Cheng. Natürlich zu sich selbst. Zu wem auch sonst? Ihn ärgerte ganz einfach, daß der Archivar ihn auf diese Spur geführt hatte. Ja, es war so, daß Cheng die Spur nicht mochte. Daß es ihm mißfiel, eine Frau namens Anna Gemini zu verfolgen. Fehlte noch, daß er ihr tatsächlich bis in die Toilette nachschnüffelte. Und weil er also höchst unzufrieden mit der ganzen Entwicklung war, mit dieser Spur und allen Fragezeichen, die sich ergaben, sagte er: Dieser verdammte Smolek! Sagte es laut. Warum auch nicht? Neben ihm stand ja bloß ein vierzehnjähriger Junge, seines Zeichens Kartäuser.
Dieser Kartäuser aber drehte sich erneut zu Cheng hin und betrachtete ihn aus Augen, die mit einem Mal eine gerade Linie bildeten. Wie zurechtgerückt. Carl gab seiner ganzen Visage eine Wendung ins Erwachsene und Belanglose und sagte mit der Stimme eines älteren Mannes, so deutlich wie nur denkbar:
»Klosterfrau Melissengeist.«
Einige Sekunden lang verharrte Cheng in einer vollkommenen, einer körperlichen wie geistigen Starre. Die Erkenntnis, die ihn einen Moment später erfassen würde, stand bereits in der Türe, hatte sich mächtig vor ihm aufgebaut. Nur, daß Cheng noch nicht sagen konnte, was sie eigentlich darstellte. Es war, als betrachte er einen Gegenstand, bei dem es sich genausogut um einen Elefanten wie um ein Haus handeln konnte.
Dann aber wurde er … ja, man könnte sagen, er wurde gebissen. Und weil nun mal Häuser nicht beißen, wußte Cheng, es mit einem Elefanten zu tun zu haben. Und was für einem.
Klosterfrau Melissengeist. Für alle, die noch nie davon gehört haben, wäre zu sagen, daß es sich dabei um ein klares, heilendes Wässerchen handelt, um die im alkoholischen Destillat schwimmenden ätherischen Öle von dreizehn Arzneipflanzen, allen voran jener namensstiftenden Melisse. Dieses Wässerchen, welches innerlich wie äußerlich zur Anwendung kommt, darf mit gutem Recht als ein Mittel angesehen werden, das im Grunde gegen alles hilft. Typisch Hausmedizin. Vergleichbar dem täglichen Glas Wein oder einem dieser Schnäpse, die der Verkrampfung und Verbitterung des Menschen entgegenwirken. Zudem kann man den Klosterfrau Melissengeist als einen Beitrag zur Schönheitspflege verstehen. Ein paar Spritzer auf den Nacken, einige Tupfer auf Stirn und Schläfen, und der solcherart behandelte Mensch blüht auf. Gewinnt zumindest ein wenig an Frische und Farbe. Daneben muß allerdings auch gesagt werden, daß diese Substanz einen recht markanten Geruch verströmt und seinen Benutzer in eine Wolke sogenannter Terpene und neunundsiebzigprozentigen Alkohols einschließt.
Chengs Mutter war eine begeisterte Benutzerin jenes Melissengeistes gewesen. Vor allem, um ihrer Kopfschmerzen Herr zu werden, die mit dem Umzug von Wuhan nach Wien sich koboldartig einstellten und aus einem bis dato wetterunabhängigen einen wetterfühligen Menschen
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