Ein dickes Fell
und Lanner stellenweise atmete.
Wenn man sich nun fragt, wie das denn möglich sei, daß Leute im Jahre 1956 – als sich Mao gerade von der Sowjetunion zu distanzieren begann –, daß Leute also in einer solchen Zeit aus China auswandern und in Wien einwandern konnten, bloß weil sie eine Vorliebe für den Dreivierteltakt besaßen, muß vermutet werden, daß auch hier einer der vielen glücklichen Fügungen in Frau Chengs Leben stattgefunden hatte.
Als Universitätsangestellte waren weder ihr Mann noch sie abkömmlich gewesen, zudem hatte keiner von ihnen über eine offizielle Einladung von österreichischer Seite verfügt. Ja, sie hatten nicht einmal einen familiären Kontakt nach Europa vorweisen können. Dennoch war ihr Antrag von sämtlichen Stellen, den österreichischen wie den chinesischen, positiv beschieden worden.
Ein Wunder? Gottes Wille? Nun, sehr viel wahrscheinlicher ist, daß die schon absurd zu nennende Ehrlichkeit der beiden eine Rolle spielte. Indem sie nämlich allen Ernstes ihre Walzerleidenschaft als vorrangiges Argument angeführt und präzise dargelegt hatten. Ohne auch nur einmal die Unwahrheit zu sagen.
Die Bürokratie, eine jede Bürokratie, rechnet mit der Verlogenheit ihrer Bürger. Folgerichtig stellen die meisten bürokratischen Akte eine Reaktion auf einen solchen als gegeben angenommenen Betrugsversuch dar. Der Mensch, der einen Antrag stellt, bekommt dies rasch zu spüren. Selbst wenn er entschlossen ist, korrekt vorzugehen, scheint ihm der Vorwurf der Lüge eine einzige Möglichkeit zu lassen: zu lügen. So entsteht ein Antagonismus zwischen Bürokratie und Bürger, der auf einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung basiert. Der Bürger wird ein schlechter Mensch, weil sich die Bürokratie einen anderen gar nicht vorstellen kann. Der Bürger lügt gewissermaßen aus Pflicht.
Wenn nun in diesem Schlamassel jemand die Wahrheit sagt und hartnäckig an ihr festhält, dann hat dies etwas ungewollt Raffiniertes. Eine solche Wahrheit kann sich in der Art einer Droge auswirken. Die Bürokratie wird davon high, und sie reagiert anders, als es ihrer Art entspricht. Und bei den beiden Chengs scheint genau dies der Fall gewesen zu sein. Jene ausführliche Darlegung eines … nun, eines Walzertraums wurde von sämtlichen Stellen anstandslos akzeptiert. Man ließ die beiden aus China hinaus und nach Österreich hinein. Ein Fenster wurde geschlossen, ein anderes geöffnet. Ganz einfach.
Die Chengs reisten ohne Unterbrechung in ihre neue Heimat und ließen sich zunächst einmal in Kagran nieder. Einer dieser vorstädtischen Orte, an denen man gut eine Idee davon entwickeln konnte, warum Menschen sich einst die Erde als Scheibe vorgestellt hatten. Hinter jedem Haus und am Ende jeder Straße schien ein Abgrund zu lauern. Ein ganzes Stückchen Ewigkeit.
In dieser flachen und öden Gegend eröffneten die zwei Eingewanderten, immerhin gelernte Naturwissenschaftler, einen kleinen Gemüseladen. Nun, Gemüse und Naturwissenschaft bedeutet ja nicht unbedingt einen Widerspruch. Auch muß betont werden, daß dieses Geschäft in keiner Weise einen chinesischen Anstrich besaß. Wie gesagt, man schrieb 1956. Noch dauerte es, bevor die chinesische Küche das Szenario einer gelben Gefahr wenigstens in kulinarischer Hinsicht bestätigte.
Zudem war das Ehepaar Cheng auch gar nicht daran interessiert, die eigene Herkunft herauszustellen. Deshalb war man ja nicht nach Wien gekommen, um hier die Exoten zu geben. Im Gegenteil. Man war an diesen Ort gezogen, um der eigenen Walzerleidenschaft den passenden geographischen Rahmen zu verleihen.
Vor allem während der sogenannten Ballsaison existierte wohl kein Tanzpaar in dieser Stadt, welches derart viele Veranstaltungen besuchte und mit einer solchen Körperbeherrschung – einer Dreieinigkeit von Gehör, Bein und Tanzpartner – einen Walzer hinzulegen verstand. Die beiden hätten daraus einen Beruf machen können. Was sie nicht taten. Sie waren keine Clowns.
Frau Cheng, deren Anmut auch den alles andere als weltoffenen Kagranern nicht verborgen blieb, führte den kleinen Laden mit Übersicht und betreute ihre Kunden mit einer Freundlichkeit, die frei von Hinterlist oder Unterwürfigkeit blieb. Sie sprach – im Gegensatz zu ihrem schweigsamen, aber souveränen Gatten – ein gutes Deutsch und bald auch ein gutes Wienerisch. Als sie nach eineinhalb Jahren noch ein wenig hübscher wurde, als sie ohnehin war, konnten sich die in solchen Dingen wiederum
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