Ein dickes Fell
hellsichtigen Kagraner denken, daß Frau Cheng schwanger war. Und das war sie ja auch. Was übrigens kaum zu Einbußen ihrer Walzerleidenschaft führte. Sie war überzeugt, daß ihr Kind dieses Dahinschweben und Dahingleiten mochte, von der Musik ganz abgesehen. Und so war es also nicht weiter verwunderlich, daß die Wehen kamen, als sich Frau Cheng gerade über den Boden eines Kagraner Tanzsaales drehte.
Markus Cheng hatte eine leichte Geburt. Ja, seine Mutter erlebte das Austragen ihres Kindes wie einen tänzerischen Höhepunkt, als sei die Zeugung, diese ganze Schwangerschaft, eine einzige großartige Walzernacht, die jeden Aspekt erfüllte, selbst noch den wunder Füße. Und wunde Füße gehörten nun mal dazu.
Folgerichtig kam das Kind in den frühen Morgenstunden zur Welt. Also zu einer Zeit, welche der Mystik und der Statistik zufolge als die Stunde des Todes gilt, von hartgesottenen Ballbesuchern jedoch als der Moment erlebt wird, da man so erschöpft wie glücklich in die ersten offenen Wirtsstuben und Kaffeehäuser einfällt.
Das Bezeichnendste an dieser Geschichte ist freilich, daß Markus Cheng sein Lebtag lang nicht den geringsten Bezug zur Walzermusik und zur ganzen Tanzerei entwickelte. Nicht einmal in einem ablehnenden Sinn. Die Sache war und blieb ihm gleichgültig. Und wenn sich überhaupt eine Auswirkung feststellen läßt, dann kann sie eigentlich nur in Chengs später Vorliebe für perfekt sitzende Anzüge bestehen. Denn selbstverständlich hatte sein Vater – klein, drahtig und biegsam – sich in der idealsten Weise zu bekleiden verstanden. Ohne darum ein Vermögen verschleudert zu haben. Ein einziger Anzug und ein einziger Smoking, noch dazu beide gebraucht, hatten ausgereicht. Hatten Chengs Vater in einer stichhaltigen Weise umgarnt.
So waren die Männer damals gewesen, Ende der Fünfzigerjahre. Es mögen, wie zu allen Zeiten, ziemliche Idioten gewesen sein, aber sie hatten die Fähigkeit besessen, auch mit bescheidenen Mitteln ihrem Aussehen einen Stil beizufügen. Man kann es auf den alten Fotos sehen. Jedermann ein Sir. Heutzutage aber gilt die Regel, es bedürfe einer Kleiderstange voll sündteurer Markenmodelle, um aus einem Mann einen Menschen zu machen. Oder, wie die Emanzen meinen, aus einem Planeten der Affen einen Planeten der Abteilungsleiter.
Die elefantenhafte Erkenntnis, die Cheng nun inmitten des Kinofoyers ereilte, bestand darin, daß er endlich begriff, welcher Geruch es gewesen war, den sein Verbindungsmann Kurt Smolek im Wirtshaus Adlerhof zurückgelassen hatte. Und warum ihm dieser Geruch, dieses markante Odeur, so vertraut gewesen war.
Das Licht, das ihm aufging, entsprach einem dieser gewaltigen Kristalluster, deren Betrachtung zu der bangen Frage nach Gewicht und Verankerung führt. Aber es war nun mal angegangen, das Licht. Klosterfrau Melissengeist – jawohl!
Das war freilich nicht alles. Der Elefant der Erkenntnis verfügte über ein Junges. Und gleich jenem berühmten kleinen Dickhäuter aus dem Dschungelbuch, war auch dieser hier die Hauptfigur. Denn wenn Cheng eins und eins zusammenzählte, dann konnte Carls klar verständliche Aussage nur bedeuten, Kurt Smolek zu kennen, zumindest vom Sehen, zumindest vom Riechen. Was wiederum die Vermutung nahelegte, daß Anna Gemini und Kurt Smolek in irgendeinem Verhältnis zueinander standen.
Der Verdacht, Kurt Smolek sei nicht ganz koscher, war Cheng ja sehr früh gekommen. So wie es aussah, hatte der Archivar nur einen Teil seines Wissens offenbart und Cheng auf eine Spur gelockt, die ganz zwangsläufig zu Anna Gemini führen mußte. Zu welchem Zweck aber? Wer sollte hier eigentlich in die Falle gehen? Anna Gemini? Er selbst? Beide von ihnen?
Es wunderte Cheng, sich entgegen seinem Mißtrauen in das Smoleksche Fahrwasser begeben zu haben. Hingegen wunderte es ihn kein bißchen, daß Carl über die Fähigkeit verfügte, zwischen einer bestimmten Person und einem bestimmten Geruch eine Verbindung herzustellen. Das war nun ziemlich typisch für einen Kartäuser. Dieser Hang zum Detail, zur Präzision und zum Überblick. Sowie die Kenntnis eines Produkts, welches die Begriffe »Klosterfrau« und »Geist« in sich trug.
Cheng wollte augenblicklich mit Anna Gemini sprechen und sie nicht wieder aus den Augen lassen. Die Annahme, daß sie sich tatsächlich auf der Toilette befand, verwarf er. Eine Folge seiner Elefanten-Erkenntnis bestand darin, diesen Abend als einen bedrohlichen wahrzunehmen. Etwas sollte sich
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