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Ein dickes Fell

Titel: Ein dickes Fell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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ereignen. Etwas, das es zu verhindern galt.
    »Wo ist deine Mutter?« fragte Cheng.
    Der Junge stierte an Cheng vorbei und machte Glotzaugen wie Peter Lorre. Aus gutem Grund. Dann auf der gegenüberliegenden Wand hing ein meterhohes Standfoto, welches genau jenen erhitzten, großäugigen Peter Lorre in seiner Paraderolle als Kindermörder zeigte. Carl imitierte also wieder einmal und war im übrigen nicht mehr ansprechbar.
    Cheng blickte sich um. Wo man hinsah Prominenz. Zumindest konnte man diesen Eindruck bekommen. Auch Botschafter mochten darunter sein, auch norwegische Bürger. Was wußte Cheng schon? Er brauchte gar nicht erst mit dem Spekulieren zu beginnen. Immerhin konnte er davon ausgehen, daß wenn Anna Gemini tatsächlich jemanden umbringen wollte, sie in ähnlicher Weise wie im Gude-Fall verfahren würde, unauffällig und abseits. Weshalb sich anbot, an diesem von Menschenmassen frequentierten Ort nach einer ruhigen Stelle zu suchen.
    Cheng nahm Carl an die Hand und setzte sich und ihn in Bewegung, wobei er nicht an dem Jungen zerrte, sondern ihn etwa so kräftig hielt wie den Griff eines Tennisschlägers. An einem Tennisschläger zerrt man nicht, man trägt ihn.
    Chengs Instinkt für Katastrophen ließ ihn auf eine Türe zusteuern, die sich dadurch auszeichnete und abhob, daß sie ohne jede Aufschrift oder Symbol war und mit ihrer dunklen, glatten, hölzernen Oberfläche vollkommen schmucklos eine Öffnung ausfüllte. Auch standen nicht etwa Sicherheitsleute davor, wie das an anderen Plätzen des Kinos der Fall war. Diese Türe schien gänzlich unbedeutend. Mehr wie eine Attrappe, die ein desolates Stück Wand verbirgt. Oder einen unbegehbaren Abstellraum.
    Nun, begehbar war der Raum sehr wohl. Cheng ließ den Jungen los und drückte die metallene Klinke. Hinter der Türe eröffnete sich ein schmaler, fensterloser, durchgehend violetter und mittels münzgroßer Bodenleuchten erhellter Gang. Die Strahlen zogen in der Art von Gitterstäben zur Decke hoch. In den Lichtsäulen schneite es Staub. Mit dem Schließen der Türe brach der Lärm ab wie ein geknickter Stamm. Oder wie einer dieser Finger, die geradezu gesetzmäßig in Kreissägen geraten.
    Der tunnelige Gang verlief quer zur Türe, somit in zwei verschiedene Richtungen, und bog jeweils nach wenigen Metern um die Ecke. Cheng faßte erneut Carls Hand und wählte die rechte Seite. Diese endete jedoch an einem Notausgang, der hinaus auf die Straße führte, sodaß der Detektiv und der Junge den Weg zurückgingen und auf die gegenüberliegende Seite wechselten. Auch hier mündete der enge Flur in eine einzige Türe, hinter der allerdings nicht nochmals die Straße, sondern ein kleiner, intimer Vorführraum lag. Ein gemütlicher Ort mit riesenhaften, gepolsterten Kinosesseln, auch diese in einem dunklen Violett gehalten. Ein Dutzend Sitze, sechs zu jeder Seite, zwei auf jeder Höhe. Es roch nach Pfefferminz. Aus den Wand- und Bodenleuchten, größer als Münzen, strömte mildes Licht, das den Raum weitgehend erhellte. Aus dem Fensterchen des Geräteraums fiel ein flimmernder Kegel auf die Leinwand. Ironischerweise war in dem Film, der gerade lief, ein ähnlicher Vorführraum zu sehen. In welchem ein paar Akteure standen oder saßen und diskutierten, berühmte Leute, die Französisch sprachen und Zigaretten rauchten. Der eine aber, der Englisch redete, ein Amerikaner, donnerte Filmrollen gegen die Wand und auf den Boden, als würde allein darin das amerikanische Wesen bestehen: sich ungehobelt zu benehmen.
    Jedenfalls meinte Cheng, sich zu erinnern, besagten Film vor einer kleinen Ewigkeit gesehen zu haben. Damals, als er noch ins Kino gegangen war, um sich an all den cineastischen Diskussionen beteiligen zu können, die nötig gewesen waren, um eins der Mädchen herumzukriegen. Die ganze Sexualität in den Siebzigerjahren hatte über die Rezeption von Filmen funktioniert. Man sprach über Filme und danach schlief man miteinander. Im besten Fall. Des öfteren blieb es beim Quatschen, versteht sich. Aber eine Frau zu erobern, ohne ihr vorher erklärt zu haben, warum man 2001 für genial, aber 451 für läppisch halte, war eigentlich undenkbar. Man konnte ein noch so haariges Monster sein, Hauptsache man verstand es, den neuesten Woody Allen brillant zu analysieren. Auf diese Weise entwickelte sich natürlich fast ein jeder zum Cineasten, auch die Filmehasser.
    Cheng sah auf die Leinwand und erkannte Monsieur Piccoli und Madame Bardot sowie den tobenden Jack

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