Ein dickes Fell
machten. Der Wiener Bodennebel, der Wiener Hochnebel, vor allem die berüchtigten Wiener Wärmeeinbrüche, die in Form rascher Konter eine Wiener Winterlandschaft in einen modrigen Badeteich verwandeln konnten, wahrscheinlich aber auch eine ganz persönliche, auf diese Stadt bezogene, jedoch uneingestandene Disposition konnten Frau Cheng einen zeitweiligen Kopfdruck bescheren, den sie mit Klosterfrau Melissengeist einzudämmen versuchte. Was nur bedingt funktionierte. Der Schmerz war gegen alles mögliche resistent, auch gegen jene von der Firma Klosterfrau beschworene »einzigartige Terpenstruktur«.
Nichtsdestoweniger genoß Frau Cheng den scharfen Geruch, die kühlende Wirkung, vor allem das Eingebundensein in die Wolke, die ja auch einen Schutzwall gegen den Alltag bildete, wenn schon nicht gegen die feindliche Kraft umstürzender Wetter. Zudem erlebte sie ein jedes Mal ein Aufleben der eigenen Gesichtszüge. Trocken gesagt: Sie fühlte sich sehr viel anmutiger, wenn sie ein wenig Melissengeist auf den Schläfen, der Stirn, den Wangen und über ihren Brustansatz verteilt hatte. Kein Wunder also, daß sie nicht unbedingt Kopfschmerzen zu haben brauchte, um sich einzureiben.
Sie war übrigens eine wirklich hübsche Frau, die aber wenig unternahm, um ihr Aussehen zu steigern oder zu konservieren. Sie verwendete nichts anderes als Nivea und Klosterfrau Melissengeist sowie natürlich jenes zu Recht hochgeschätzte Wiener Leitungswasser, das man eigentlich in Flaschen füllen und zu Goldpreisen ins Ausland verkaufen müßte. Dieses Leitungswasser auf der Haut und im Körper eines gläubigen Menschen, stellt einen wahren Jungbrunnen dar. Umso mehr muß man sich fragen, was die meisten Wiener damit eigentlich tun. Ihre mehligen Würstchen darin kochen? Ihre Kanarienvögel tränken? Täglich ihre Autos waschen? Gartenteiche füllen?
Oder liegt es am fehlenden Glauben? Jedenfalls kann wirklich nicht behauptet werden, daß die Menschen in dieser Stadt aussehen, als lebten sie an den Gestaden eines Jungbrunnens. Obwohl sie genau das tun.
Und im Falle der Frau Cheng schien dies ja auch eine Auswirkung zu besitzen. Wenngleich natürlich ihre Mandelaugen Anlaß gaben, dem Wunder ihrer ewigen Jugend einen asiatischen Ursprung anzudichten. Was ein großer Irrtum war. Und das wußte Frau Cheng. Aber gegen Irrtümer kommt man in der Regel nicht an. Irrtümer besitzen einen pornographischen Reiz. Den Reiz der Stilisierung.
Irrtümer waren ohnedies ein prägendes Element in Frau Chengs Leben. Irrtümer der gütigen Sorte. So war es einem puren Zufall zu verdanken, daß sie – damals noch in China – auf einem berühmten Foto posierte, welches im Jahre 1950 entstanden war und das Selbstbewußtsein der gerade erst entstandenen Volksrepublik dokumentieren sollte. Vier junge Frauen sind darauf zu sehen, die auf dem Erdwall einer zu errichtenden Straße stehen, ihre Schaufeln wie Gewehre haltend, dabei aber mit freundlichem Blick. Wer auf solche Weise Schaufeln zu halten verstand, würde dem Volk mit mehr dienen können als der bloßen Zeugung neuen, hungrigen Lebens.
Frau Cheng, damals sechzehnjährig, war nun keineswegs an dieser Straßenbaugeschichte beteiligt gewesen, sondern gerade mit ihrem Rad vorbeigekommen, als der Fotograf, ein Amerikaner übrigens, sie von selbigem herunterkommandiert und mit einer Schaufel ausgestattet hatte. Und indem die junge Frau nun ein paar Sekunden dagestanden und auf wirklich famose Weise gelächelt hatte, hatte sie dem neuen China ein Gesicht geschenkt, nämlich ihr eigenes.
Dieser nette kleine Umstand konnte nichts daran ändern, daß sie sechs Jahre später an der Seite ihres Mannes das Land zu verlassen suchte. Jedoch nicht, um einer Verfolgung oder Not zu entgehen, oder auch nur dem Kommunismus zu entfliehen, sondern vielmehr aus einem puren Interesse an der Welt, genauer gesagt einem Interesse an der Welt von Wien.
Man traut es sich kaum zu sagen, weil es gar so phantastisch und rührend klingt, aber es war ausgerechnet die Leidenschaft für den Wiener Walzer, die das Ehepaar Cheng antrieb. Ja, die beiden hingen in einer fanatischen Weise an dieser Musik und dieser Tanzform. Der Walzer war ihnen der Sinn des Lebens.
Verständlich, daß eine gewisse Enttäuschung sich einstellte, als die beiden feststellen mußten, daß nur ein geringer Teil der Wiener Bevölkerung diesen Tanz wirklich beherrschte. Nichtsdestotrotz waren sie glücklich, an einem Ort zu leben, der die Musik eines Strauß
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