Ein diplomatischer Zwischenfall
Ich war ganz verwirrt. Ich bildete mir ein, dass ich alle meine Verabredungen durcheinander gebracht hätte und es Dienstag wäre, ohne dass ich es wusste. Aber er kam auch am Dienstag – der Montag war also sozusagen nur eine Ausnahme.«
»Das ist eine interessante Abweichung von der Gewohnheit«, murmelte Poirot. »Ich würde gern den Grund wissen.«
»Nun ja, wenn Sie mich fragen, glaube ich, dass er irgendwie durcheinander war oder sich Sorgen machte.«
»Warum glauben Sie das? Hat er sich so benommen?«
»Nein, es war nicht eigentlich sein Benehmen. Er war wie immer sehr still. Selten sagt er etwas anderes als ›guten Abend‹, wenn er kommt und geht. Nein, es war seine Bestellung.«
»Seine Bestellung?«
»Sie werden mich sicherlich auslachen, meine Herren.« Molly errötete. »Wenn aber ein Gast schon seit zehn Jahren hierher kommt, dann weiß man, was er gerne isst und was nicht. Er verabscheut Nierenpastete und Brombeeren, und ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals dicke Suppen bestellt hätte – aber Montagabend bestellte er dicke Tomatensuppe, Steak, Nierenpastete und Brombeertorte. Es sah so aus, als ob er gar nicht bemerkte, was er bestellte!«
»Wissen Sie«, sagte Hercule Poirot, »das finde ich außerordentlich interessant.«
Molly schaute befriedigt drein und ließ die beiden Gäste wieder allein.
»Nun, Poirot«, sagte Henry Bonnington kichernd. »Gib ein paar Folgerungen von dir, und zwar von deiner besten Sorte.«
»Ich würde lieber zuerst deine Schlüsse hören.«
»Du willst, dass ich Watson spiele, äh? Nun gut, der alte Knabe ging zum Doktor, und der verschrieb ihm mal eine andere Kost.«
»Dicke Tomatensuppe, Steak, Nierenpastete und Brombeertorte? Ich kann mir keinen Arzt vorstellen, der so etwas tut.«
»Du brauchst es nicht zu glauben, alter Junge. Die Ärzte verschreiben doch die unmöglichsten Sachen.«
»Ist das die einzige Lösung, die dir einfällt?«
Henry Bonnington antwortete: »Im Ernst, ich glaube, es gibt dafür wahrscheinlich eine Erklärung. Unser unbekannter Freund war über irgendetwas sehr erregt. Er war einfach so verstört, dass er nicht wahrnahm, was er bestellte oder aß.« Er schwieg einen Moment lang und sagte dann: »Du wirst mir gleich als Nächstes sagen, dass du ganz genau weißt, was in ihm vorging. Vielleicht wirst du mir sagen, dass er gerade den Entschluss gefasst habe, einen Mord zu begehen.« Er lachte über seine eigene Annahme.
Hercule Poirot lachte nicht.
Er musste sich selbst eingestehen, dass er in diesem Moment ernstlich beunruhigt war. Er behauptete später, er hätte damals schon ahnen müssen, dass möglicherweise etwas geschehen würde, obwohl ihm seine Freunde versicherten, dass so eine Ahnung ziemlich unbegründet gewesen wäre.
Etwa drei Wochen waren vergangen, als Hercule Poirot und Bonnington einander zufällig in der Untergrundbahn wiedertrafen. Sie nickten einander zu, während sie sich an den nebeneinander hängenden Gurten festhielten und von einer Seite zur anderen schwankten. Am Piccadilly Circus stiegen sehr viele Leute aus. Die beiden fanden zwei Sitzplätze im vorderen Teil – es war eine ruhige Ecke, weil hier niemand ein- noch ausstieg. »So ist es besser«, sagte Mr Bonnington. »Die Menschen sind doch ein egoistisches Volk. Du kannst sie bitten, nach vorn zu gehen, so oft du willst, sie tun es einfach nicht!«
Hercule Poirot zuckte die Achseln. »Was kannst du nun tun?«, fragte er. »Das Leben ist zu unsicher.«
»Da hast du Recht. Heute lebst du, und morgen bist du vielleicht schon tot«, sagte Mr Bonnington ein wenig trübsinnig, aber doch genießerisch. »Und weil wir gerade davon sprechen, fällt mir etwas ein. Erinnerst du dich noch an den alten Knaben, den wir im ›Gallant Endeavour‹ gesehen haben? Ich würde mich nicht wundern, wenn er schon in eine bessere Welt verschwunden wäre. Seit einer Woche hat er sich nicht mehr sehen lassen. Molly macht sich darüber ziemliche Sorgen.«
Hercule Poirot saß plötzlich aufrecht. Es blitzte in seinen grünen Augen. »Ist das wahr?«, fragte er. »Bist du sicher?«
»Erinnerst du dich, dass ich gemeint hatte, er sei zu einem Arzt gegangen und der hätte ihm eine bestimmte Kost verschrieben? Die Sache mit der Kost war natürlich Blödsinn, aber ich würde mich nicht wundern, wenn er wegen seiner Gesundheit wirklich zum Arzt gegangen wäre und der ihm etwas gesagt hätte, was ihn völlig aus dem Gleichgewicht brachte. Das würde erklären, warum
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