Ein dunkler Ort
klar«, sagte Lynda glücklich. »Jetzt, wo ich raushabe, wie das geht, werde ich alle zeichnen. Als Nächstes nehme ich mir Madame Duret vor, mit diesen Augen, die einen durchbohren. Oder vielleicht Jules. Hat vielleicht irgendjemand Interesse an einem Bild von ihm?«
»Das musst du wohl scannen«, sagte Kit und lachte. »Wir werden alle einen Ausdruck haben wollen. Und einen von Professor Farley … wie er sich den Bart streicht …«
»Hab ich da meinen Namen gehört?« Die tiefe Stimme des Professors unterbrach das Gespräch. Er stand in der Tür und lächelte auf seine freundliche Art.
»Sehen Sie nur, was Lynda gemacht hat. Ist das nicht toll?«, sagte Kit und hielt ihm das Bild hin, damit er es sich anschauen konnte.
»Das ist es, in der Tat.« Professor Farley kam langsam ins Zimmer, stellte sich hinter Lynda und schaute auf die Bleistiftzeichnung. »Das ist eine ausgezeichnete Arbeit, Lynda. Beschäftigst du dich schon lange mit Kunst?«
»Überhaupt nicht. Nie«, sagte Lynda. »Ehrlich gesagt, die einzige Zeichnung, die ich je gemacht hab, war eine von Ruth. Und das war auf einer Party, da sollten alle einander zeichnen, und die anderen mussten raten, wer das auf dem Bild war. Ich hab den Preis gewonnen, weil ich die Schlechteste war.«
»Nun, seitdem hast du offensichtlich Fortschritte gemacht«, sagte Professor Farley bewundernd. »Ich werde das gegenüber Madame Duret erwähnen. Sie fördert gern das Talent unserer jungen Schüler. Sicherlich wird sie dir Material zur Verfügung stellen, das dir ermöglicht, dich besser auszudrücken, als das mit einem Bleistift möglich ist.«
»Darf ich das behalten?«, fragte Kit und Lynda nickte erfreut.
»Klar. Ich freu mich, dass dir meine Zeichnung so gut gefällt. Und von dir mach ich auch eine, Sandy, und von dir auch, Ruth, wenn du willst. Oder glaubst du immer noch, dass ich durchgepaust habe?«
»Nein«, sagte Ruth entschuldigend. »Du würdest mich nicht anlügen, das weiß ich doch. Abgesehen davon, wo hättest du die Vorlage denn hernehmen sollen? Tut mir leid, dass ich dir nicht geglaubt habe. Aber wir kennen uns schon so lange … und da ist es schon ein Schock plötzlich festzustellen, dass du im Zeichnen so ein Naturtalent bist. Ich hab das Gefühl, dich gar nicht richtig zu kennen.«
»Du kennst mich besser als irgendjemand sonst«, sagte Lynda. »Ohne dich hätte ich in diesem letzten Internat nie überlebt. Wie ich schon sagte, ich bin genauso überrascht.«
»Fünf Minuten, dann gibt’s Essen«, sagte Kit, die auf ihre Uhr guckte. »Ich lauf nach oben und bring das Bild in mein Zimmer, ehe noch was damit passiert. So wie wir es herumreichen, wird es bald nur noch ein einziger großer Fleck sein.«
Die untergehende Sonne schien durch das Buntglasfenster am Ende des Ganges, der in dem milden Licht wirkte wie der Mittelgang einer Kathedrale. In Augenblicken wie diesem , dachte Kit, als sie den Flur entlang ging, könnte ich beinahe glauben, dass ich mir all das Unheimliche nur eingebildet habe.
Sie kam an die Tür zu ihrem Zimmer, öffnete sie und ging hinein. Dann knipste sie die Schreibtischlampe an und legte die Bleistiftzeichnung auf den Schreibtisch.
Eine ganze Weile blieb sie davor stehen und schaute sie an. Es war keine besonders fein ausgearbeitete Zeichnung, die Linien waren klar und einfach, und dennoch gab das Bild mehr wieder als nur die äußerliche Ähnlichkeit.
Die gerade Nase, das eigensinnige Kinn, die Rundung der Wange, alles war da, doch da war noch mehr, irgendwas war mit den Augen. Ruth hatte es ausgesprochen: Die Augen hatten eine Direktheit, die typisch war für Kit, aber da war auch noch eine andere Qualität auszumachen, eine Verletzlichkeit, ein Anflug von Unsicherheit. Es waren die Augen eines Mädchens, das innerlich unsicherer war, als es sich nach außen hin gab.
»Wer bin ich?«, fragten die Augen. »Wo ist mein Platz im Leben? Bin ich hübsch? Mögen die Leute mich? Mag Jules mich? Wo gehe ich hin? Werde ich in meinem Leben irgendetwas von Bedeutung erreichen? Werde ich glücklich sein? Bin ich es wert, geliebt zu werden?«
Eine Vielzahl von Fragen schien hinter den Augen auf, angedeutet von ein paar zarten Linien und leichten Schattierungen. Das war der Unterschied zwischen der echten Kit, die nur sie selbst und vielleicht Tracy kannte, und der starken, selbstbewussten Kathryn Gordy, die alle anderen sahen.
Woher hat sie das nur gewusst? , grübelte Kit. Wie konnte Lynda Hannah mich so durchschauen?
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