Ein dunkler Ort
war ihr schon klar, sie konnte nämlich die kalten Dielen an den Fußsohlen spüren und merkte, dass Türen auf und zu gingen. Da waren noch andere Stimmen, ein gedämpfter Chor von Stimmen, aber die Musik übertönte sie.
»Hier ist sie«, sagte der Traum-Mann. »Ich habe sie nach unten geholt.«
»Ich bin an der Reihe«, sagte jemand. »Ich habe sie noch nicht benutzt.«
»Nein, sie gehört mir. Sie muss für mich spielen!«
»Ich will sie heute Nacht! Letztes Mal hast du sie gehabt. Sie hat dieses Konzert gespielt.«
»Du hast wohl vergessen, dass ich sie geholt habe!«
Kit spürte Klaviertasten unter den Fingern. »Aber ich kann gar nicht spielen!«
Und noch während sie diese Worte herausschrie, spielte sie schon, und es war der alte Traum, in dem ihre Hände über die Elfenbeintasten rasten und die enormen donnernden Akkorde hervorbrachten.
Ich träume , sagte Kit sich ein letztes Mal. Ich träume und ich muss jetzt aufwachen. Ich zwinge mich jetzt aufzuwachen!
»Nein«, schrie der Mann in ihrem Traum. »Das kannst du nicht. Tu’s nicht!«
»Ich tu’s!« Mit all ihrer Kraft, mit all ihrem Temperament und der für sie typischen Sturheit wandte sie sich gegen ihn. »Ich tu’s aber!«
Die Musik war weg.
Sie saß auf einer Bank vor einem Klavier und ihr war kalt – so kalt, dass es schmerzte. Blinzelnd schaute sie sich um und sie begriff, dass sie im Musikraum in Blackwood war … und sie war nicht allein.
Ihr gegenüber, neben dem Aufnahmegerät, saß Jules. Das Gerät blinkte, sie konnte es nicht fassen, aber er machte eine Aufnahme.
»Jules?«, sagte sie mit Schärfe in der Stimme. Er erschrak und legte den Schalter um, das Blinken hörte auf.
»Jules«, sagte Kit zittrig, »was mache ich hier?«
»Du … du schlafwandelst«, sagte Jules.
»Und du warst hier, um mich aufzunehmen? Du hast mich doch aufgenommen, hab ich recht? Auf dieser CD spiele ich doch?«
Jules nickte wortlos. Er war blass und sah aus, als wisse er nicht, wie er es abstreiten sollte.
»Du machst das nicht zum ersten Mal, oder?«, fragte Kit. »In anderen Nächten … bin ich hier runtergekommen und hab für dich gespielt. Diese Musik, die ich neulich hier gehört habe … das war eine Aufnahme von mir.«
»Ja«, sagte Jules. »Sieh mal, Kit, ich weiß, dir kommt das seltsam vor, aber glaub mir, das ist nichts, worüber du dich aufregen musst. Es ist nichts Schlimmes passiert. Du bist immer wieder sicher in dein Zimmer zurückgelangt. Und wir haben diese Aufnahmen, das ist alles.«
»Wir? Wer ist denn ›wir‹?«
»Wir … wir alle. Die Schule.«
»Deine Mutter? Professor Farley?«
»Guck doch nicht so, Kit. Keiner hat dir etwas angetan. Hier ist nur Gutes geschehen. Wir schenken der Welt wunderschöne Musik.«
»Das ist nicht meine Musik«, sagte Kit. »Ich bin keine Komponistin. Wessen Musik ist das? Wo kommt sie her?« Sie sah, wie er sich verschloss, und sie konnte auch sehen, wie er nach einer Antwort rang.
»Denk dir nichts aus. Ich will die Wahrheit wissen. Das bist du mir schuldig, Jules. Sag mir, wessen Musik ich gespielt habe?«
»Ich weiß es nicht«, stammelte Jules. »Dieses Mal … weiß ich es einfach nicht.«
»Und die anderen Male?«
»Ich glaube, ja, ich bin mir fast sicher, dass es eine Zeit lang Franz Schubert gewesen ist.«
»Schubert! Aber der ist schon vor über hundert Jahren gestorben!«
»Er ist 1828 gestorben«, sagte Jules. »Mit einunddreißig Jahren. So viel ist unvollendet geblieben, Kit, und so viele wunderbare Musikstücke sind ungeschrieben geblieben. Sein Tod war eine tragische Vergeudung von Talent.«
»Und ich habe seine Musik gespielt? Ich? Ich schaffe es nicht mal, ohne Fehler durch »Der fröhliche Landmann« zu kommen.« Kits Stimme zitterte. »Und dann Sandy und die Gedichte, Lynda …« Die Puzzleteile begannen sich zusammenzufügen, und der Gedanke, der in ihrem Kopf entstand, war ebenso ungeheuerlich wie unglaublich.
»Hol sie her«, sagte sie leise. »Alle. Sandy, Lynda und Ruth, den Professor, deine Mutter. Ich will, dass sie alle sofort hier runterkommen. Ich will genau wissen, was hier in Blackwood passiert ist … die ganze Geschichte.«
»Aber, Kit, nun hör doch«, sagte Jules verzweifelt. »Du bist aufgebracht und das kann ich dir nicht verdenken. Aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, über so etwas zu reden. Es ist zwei Uhr morgens. Alle schlafen fest. Und da willst du sie doch wohl nicht aufwecken.«
Kit richtete sich kerzengerade auf und
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