Ein dunkler Ort
Natalie deshalb gefeuert.«
»Dann hat sie dir also was erzählt.« Ruth hatte mehr Interesse an den Fakten als an Natalies Schicksal. »Was hast du rausgekriegt?«
»Schreckliche Dinge. Die gesamte Familie von Mr Brewer ist bei einem Brand ums Leben gekommen und er ist durchgedreht. Er wollte nicht wahrhaben, dass sie tot waren. Für den Rest seines Lebens hier hat er so getan, als wären sie noch da, er hat von ihnen gesprochen, Spielzeug für die Kinder gekauft und alles.«
»Ist Mr Brewer auch im Haus gestorben?«
»Ja«, sagte Kit. »Viel später. Warum fragst du? Ruth …« Sie brach ab und schaute Ruth ins Gesicht.
»Ruth, was hast du denn? Weißt du etwas, das ich nicht weiß?«
»Ich weiß gar nichts«, sagte Ruth. »Ich kann nur spekulieren.«
»Aber du hast eine Idee?«
»Das ist echt weit hergeholt«, sagte Ruth. »So weit, dass du es wahrscheinlich nicht glauben wirst. Ich weiß selbst nicht, ob ich es glaube.«
»Was denn?«
»Ich will im Moment nicht drüber reden«, sagte Ruth. »Erst muss ich eine Weile nachdenken. Hast du nicht gesagt, die Frau in Sandys Träumen würde Ellis heißen und aus England kommen?«
»Davon ist Sandy überzeugt. Entweder England oder Schottland, auf alle Fälle gibt es dort Moore.«
»Hat sie je den Nachnamen dieser Frau genannt?«
»Nein.«
»Ich geh in die Bibliothek und schlag was nach«, sagte Ruth. »Sollte sich herausstellen, dass ich richtig geraten habe, dann erzähle ich es dir. Aber mach dich schon mal auf was gefasst. Wenn ich tatsächlich die Antwort gefunden habe, dann kriegst du den Schock deines Lebens.«
Wie immer war die Musik auch in dieser Nacht da. Leise dieses Mal, wie ein Wiegenlied für ein Kind. Mondschein auf einem Kissen. Zweige, die in der leichten Abendbrise vor einem Fenster rascheln. Glühwürmchen auf dem Rasen. Leises Lachen von Paaren, die auf den Verandastufen sitzen.
Ich schlafe, sagte Kit sich selbst . Ich weiß, dass ich schlafe. Ich liege in dem Bett mit dem Baldachin und das Zimmer ist dunkel und still und diese Musik gibt es nicht. Das ist ein Traum, nur ein Traum. Wenn ich aufwache, ist Morgen, es gibt Frühstück unten im Esszimmer und Unterricht, in den ich gehen werde, und die Musik wird wieder weg sein, als ob es sie nie gegeben hätte .
Eine leise Stimme drang durch die Musik zu ihr durch. Eine Männerstimme, schroff, aber seltsam sanft.
»Weg, für einen Augenblick. Aber nicht wirklich. Nie wirklich weg.«
Da sie wusste, dass es ein Traum war, bekam Kit keinen Schreck.
»Wer bist du?«, fragte sie. Und dann erkannte sie ihn und ihr Herz blieb fast stehen. »Du hast auf dem Flur hinter mir gestanden, du bist der, den ich im Spiegel gesehen habe.«
»Aber ja«, sagte der Traum-Mann. Anscheinend wunderte er sich über ihr Staunen.
»Warum bist du mir gefolgt?«, fragte Kit. »Warum bist du jetzt hier? Was willst du?«
»Ich bin hier, um zu geben.«
»Das ist keine Antwort.«
»Das ist die einzige Antwort«, sagte der Mann geduldig. »Du gehörst zu den Glücklichen, die mit der Fähigkeit zu empfangen gesegnet sind.«
»Empfangen? Was denn?« Aber dann kam Kit von selbst auf die Antwort und sie fing an zu verstehen. »Die Musik? Bist du derjenige, der mir diese Musik schickt? So wie Ellis Sandy Gedichte schickt? Wenn es so ist, dann nimm sie zurück. Ich will sie nicht.«
In ihr schwollen die Geräusche an, wurden immer lauter, änderten Tempo und Rhythmus, begannen zu springen und zu drängen wie so oft in letzter Zeit, bis ihr Hirn den Druck kaum ertragen konnte. Das ist ein Traum , rief sie sich verzweifelt in Erinnerung. Nur ein Traum.
»Aber natürlich ist es das«, sagte der Mann und griff nach ihrer Hand. Seine Finger umschlossen ihr Handgelenk und zogen sie aus dem Bett. Bei der eiskalten Berührung konnte sie ihren Aufschrei kaum unterdrücken. Sie spürte den Teppich unter ihren nackten Füßen und sah, wie er nach dem Türknauf griff.
»Wo bringst du mich hin?«
»Du musst es rauslassen«, sagte der Mann.
»Was rauslassen? Was meinst du damit?«
Jetzt waren sie auf dem Flur und er führte sie durch die Dunkelheit, sicher wie jemand, der jeden Schritt kennt. Die Musik in ihrem Kopf wurde indessen lauter und immer lauter und drohte, ihren Kopf zu sprengen.
»Du musst sie rauslassen, sonst zerplatzt dein Kopf. Du musst sie fließen lassen!«
»Wie?«, schluchzte Kit. »Wie denn?« Sie hatte längst die Orientierung verloren und wusste nicht, wo sie hingingen. Sie waren auf der Treppe, das
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