Ein dunkler Ort
Wie kann sie hinnehmen, dass wir hier weggehen, den Menschen, die wir lieben, alles erzählen und nie wieder zurückkommen?«
Die Antwort blieb zwischen ihnen in der Stille des Raumes hängen, sie war zu grauenhaft, um sie zur Kenntnis zu nehmen.
»Sag es nicht«, sagte Sandy. Aber Kit sprach es trotzdem aus.
»Bis Weihnachten«, sagte sie leise, »spielt das keine Rolle mehr. Wir müssen nicht mehr in Blackwood sein, damit sie zu uns durchkommen. Jeden Tag dringen sie tiefer ein. Bis Weihnachten sind sie ein Teil von uns geworden, diese Geisterleute. Sie haben die Kontrolle über uns gewonnen – und egal, wo wir hingehen, egal was wir für den Rest unseres Lebens tun, wir gehören ihnen.«
SECHZEHN
Liebe Tracy,
es ist seltsam, einen Brief an Dich zu schreiben, von dem ich weiß, dass er Dich nie erreichen wird. Und das auch noch mit der Hand, weil ich mich Dir irgendwie näher fühle, wenn ich die Worte direkt zu Papier bringe und keinen Computer benutze. Dass ich Dich zum Reden habe, hält mich bei Verstand. Die Tage vergehen, ich mach mir nicht mal die Mühe, den Überblick zu behalten, sie sind sowieso alle gleich. Wir haben jetzt keine Kurse mehr, sie wurden schon bald nach der Nacht eingestellt, in der ich im Musikraum aufgewacht war und Madame gezwungen hatte, uns die Wahrheit über Blackwood zu erzählen. Danach war kein Unterricht mehr möglich.
Wie konnten wir Kurse besuchen, lernen und einem ganz normalen Lehrplan folgen, wenn wir doch wussten, dass damit nur etwas anderes verschleiert werden sollte? Wie konnten wir an einem Schultisch sitzen und zuhören, wenn Madame oder Professor Farley Vorträge über Geschichte, Literatur und Sprachen hielten, als ob sie normale Lehrer wären, wenn wir doch wussten, was sie in Wirklichkeit wollten?
Und Jules? Wie sollte ich denn an diesem Klavier sitzen und ihm banale Anfängerstücke vorklimpern, wenn er mich Musik spielen hören hatte, die noch nie zuvor jemandem zu Ohren gekommen war? Wenn meine Finger sich auf eine Weise bewegten, die ein musikalisches Genie für mich arrangiert hatte? Von allen Dingen, die für mich schwer zu akzeptieren sind, ist es für mich am schlimmsten, dass Jules tatsächlich ein Teil dieses Komplotts ist. Stell dir vor, er hat Nacht für Nacht im Musikraum gesessen und Aufnahmen gemacht, während ein Geist mich in der Gewalt hatte und ich in einer Art Trance auf der Klavierbank gesessen habe. Und ich hab gedacht, er mag mich, echt. Tracy … so wie er mich angeschaut hat und wie seine Stimme geklungen hat … und da war auch etwas in seinen Augen an diesem Abend, als ich die Gestalt im Spiegel gesehen und losgeschrien hatte. Er kam vor den anderen die Treppe hochgerannt und hat mich in die Arme genommen und gehalten … und ich hätte schwören können, dass ich ihm nicht egal war. Wie dumm von mir, so etwas zu denken, wo ich für ihn doch nicht mehr bin als das Versuchskaninchen in einem abartigen und ganz grauenhaften Experiment.
Da jetzt Schluss ist mit dem Unterricht, ist auch Schluss mit dem anderen Theater. Madame Duret, Professor Farley und Jules essen nicht mehr gemeinsam mit uns im Speisezimmer. Wir essen allein, Sandy, Ruth und ich, wenn wir überhaupt essen. Meistens sind wir nicht hungrig – und wenn wir Hunger haben, ist es leichter, in die Küche zu gehen und uns ein Brot zu schmieren, als die Mahlzeiten runterzuwürgen, die Lucretia zubereitet. Wir verbringen so viel Zeit wie möglich draußen im Garten und am See, das Wetter ist aber so schlecht und der Wind so eisig, dass es uns schnell wieder ins Haus zieht.
Lynda ist völlig verloren für uns. Wir sehen sie überhaupt nicht mehr. Ich weiß aber, dass sie malt, denn ab und zu geht Professor Farley in ihr Zimmer und schleppt die Leinwände nach unten in Madames Büro. Keine Ahnung, was sie dann damit machen. Ich frage mich, ob sie die Bilder wohl verkaufen, so wie den Vermeer? Ob Madame auf diese Weise den Erwerb von Blackwood finanziert hat? Mit einem brandneuen Manuskript von Hemingway, einem Gedicht von Kipling und Musik, die nur Chopin komponiert haben kann? Ob sie jetzt vielleicht schon versucht, die kürzlich entdeckten Stücke von Schubert in bare Münze umzuwandeln, die Jules aufgenommen hat?
Wenn ich doch nur ins Büro und ans Telefon kommen könnte. In meiner Vorstellung habe ich deine Nummer so oft gewählt, dass sie schon fast ein Teil von mir geworden ist. Ich schreibe sie mit dem Finger in den Staub auf der Kommode und sehe gerade, dass ich sie
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