Ein dunkler Ort
ein paar Mal auf den Rand dieses Briefes geschrieben habe. Ich könnte dich im Schlaf anrufen. Wenn ich doch nur an den Festnetzanschluss kommen könnte. Aber die Tür zum Büro ist immer abgeschlossen.
Und Lyndas Tür auch. Sie sorgen dafür, dass sie abgeschlossen bleibt, damit wir nicht reingehen und sie ablenken. Madame hat den Schlüssel und sie gibt ihn Lucretia, die ihn benutzt, wenn sie die Tabletts nach oben bringt. Sandy und ich stehen manchmal vor Lyndas Zimmer und versuchen mit ihr zu reden, doch sie antwortet nicht. Ich hab das Gefühl, mit Ruth würde sie sprechen. Wenn jemand zu ihr durchdringen könnte, dann Ruth. Die beiden sind schon seit Jahren Freundinnen, aber Ruth will nicht. Sie sagt, die Arbeiten, die Lynda fertigstellt, seien zu bedeutend, man dürfe den Prozess nicht durch alberne Gespräche aufhalten.
Sandy und ich halten uns von Ruth fern, so gut es geht. Mit Ruth zusammen zu sein, ist fast so schlimm, wie sich im selben Raum mit Madame Duret persönlich aufzuhalten. Eine von uns ist Ruth inzwischen nicht mehr. Sie hat diese ganze Sache akzeptiert und sie fährt voll drauf ab. Ihre Augen glänzen vor Aufregung und sie schleppt immer ein Notizbuch mit sich herum, damit sie alles aufschreiben kann, was zu ihr »kommt«. Ich hab mal in ihr Heft geguckt, es ist voller Zahlen und Zeichen und merkwürdiger Diagramme. Aber ich akzeptier das nicht! Solange ich lebe, werde ich das nicht tun. Ich kämpfe dagegen an bis zum Letzten. Ich komme hier raus, Tracy, irgendwie komme ich hier schon wieder raus.
– Kit
Kit faltete den Brief zusammen und steckte ihn in die Tasche ihrer Jeans. Sie machte sich nicht die Mühe, die Tür abzuschließen, als sie ihr Zimmer verließ, sie wusste ja, dass es nur eine sinnlose Formalität war. Und sie schaute auch nicht in den Spiegel am Ende des Flurs, denn sie wollte nicht wissen, wer darin zu sehen war.
Sie ging die Treppe runter und schlich sich zu Madames Büro, sie drehte den Türknauf. Abgeschlossen. Ein Mal wird sie offen sein , dachte sie, ein Mal . Sie kann sie nicht immer verschlossen halten. Der Tag wird kommen, an dem sie es vergisst, und dann werde ich so schnell drinnen sein, dass niemand mich aufhalten kann. Ich muss nur abwarten, die Augen offen halten und es wieder versuchen.
Hinter dem Büro stand die Tür zum Salon offen, ein Feuer brannte im Kamin. Lucretia war im Zimmer und wischte Staub. Kit blieb stehen, ging aber nicht hinein. Es hatte keinen Zweck zu versuchen, ein Gespräch mit Lucretia anzufangen. Sie wusste nicht, wie viel Lucretia von der Situation in Blackwood verstand, aber es war auch nicht wichtig, sie hörte ja sowieso nur auf Madame Duret.
Kit ging weiter den Flur entlang, bis sie zum Musikraum kam. Durch die geschlossene Tür konnte sie Klavierklänge hören. Sie lauschte eine Weile, dann trat sie ohne anzuklopfen ein. Jules saß mit dem Rücken zu ihr auf der Klavierbank und spielte leise für sich. Er hörte auf, als die Tür aufging und drehte sich um. Dieses Mal war er nicht verärgert wegen der Störung.
»Hi.«
»Hi.« Kit schaute ihn an und kapierte nicht, was sie an ihm gefunden hatte. Er sah aus wie seine Mutter – und sie hasste sie beide.
»Was spielst du da?«, fragte sie ihn wütend. »Was von Schubert?«
»Kit, bitte.« Er machte eine hilflose Geste. »Ich will nicht, dass wir Feinde sind. Ich mag dich wirklich sehr. Schon von Anfang an. Ich wünschte, du würdest meine Position verstehen.«
»Was genau ist denn deine Position?«, fragte Kit eisig.
»Na ja, jedenfalls nicht die eines Komplizen bei einem Verbrechen. Du willst mir Schuldgefühle machen und das ist einfach unfair. Meine Mutter hat eine Gabe, eine wunderbare Gabe. Sie hat dir die Chance gegeben, die Welt zu bereichern. Warum geht dir das so gegen den Strich?«
»Begreifst du das nicht?« Kit sah ihn ungläubig an. »Wie würde es dir denn gehen, wenn du von einem Haufen Toter für ihre Zwecke benutzt werden würdest? Und wo wir gerade beim Thema sind: Warum nimmst du denn nicht aktiv an diesem Experiment teil? Ist dein Geist deiner Mutter etwa nicht ›jung und klar und unbelastet genug‹? Kann sie damit nichts anfangen?«
»Offensichtlich nicht«, sagte Jules, »sonst hätte sich mich auch zum Empfänger gemacht. Nicht jeder kann auf so etwas eingestimmt werden. Du zählst zu den Glücklichen.«
»Hör auf damit«, sagte Kit. »Daran ist gar nichts glücklich, Jules. Ich will dich was fragen. Die beiden anderen Schulen, die deine Mutter
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