Ein eisiger Tod - Ein Inspector-Rebus-Roman
die Flasche wieder zu und reichte sie dem Nächsten weiter. Rebus fragte sich, wie viele ehemalige Knackis sich momentan um ihn drängen mochten. Dann sah er jemand anders den Raum betreten, und er vergaß, das Glas an den Mund zu führen.
Sie war in Schwarz gekleidet - eine kleine Frau mit einem Pillboxhut und einem kurzen Schleier, der ihre Augen bedeckte, aber den Mund frei ließ. Und hinter ihr, viel größer, eine jüngere Frau in einem schlichten, tief ausgeschnittenen und eng anliegenden marineblauen Kostüm. Es sah so aus, als trage man normalerweise eine Bluse darunter, aber Maisie Finch trug weder eine Bluse noch, soweit Rebus erkennen konnte, sonst etwas darunter.
Fürs Erste aber interessierte ihn die andere Frau mehr. Es war Helena Profitt. Rebus wandte sich zum Abtropfbrett, neben dem ein rotwangiger Mann, verschwitzt und ohne Jackett, aber mit knallroten Hosenträgern, stand und die Getränke verwaltete.
»Reichen Sie mir mal zwei Sherrys rüber«, murmelte Rebus in seine Richtung. Die Bestellung wurde weitergegeben, und wenige Augenblicke später hatte Rebus die Getränke. Er ließ seinen Whisky auf der Frühstückstheke stehen und ging mit den zwei Gläsern ins Wohnzimmer.
Helena Profitt führte gerade eine gedämpfte Unterhaltung mit Tresa McAnally, also tippte Rebus Maisie Finch auf die Schulter. Als sie sich zu ihm umdrehte, reichte er ihr die Gläser.
»Danke.« Sie schnüffelte an dem Inhalt, bevor sie eines der Gläser an Helena Profitt weiterreichte.
»Komisch«, sagte Rebus, »Sie haben kein Wort davon gesagt, dass Sie Miss Profitt kennen.«
Sie lächelte, nahm dann einen Schluck von dem Sherry und verzog das Gesicht.
»Zu süß?«
»Widerlich. Gibt’s nichts anderes?«
»Whisky, dunklen Rum, Softdrinks. Vielleicht etwas Wodka.«
»’n Wodkachen wär nicht schlecht.« Als sie aber das Gedränge in der Kochnische sah, änderte sie ihre Meinung und leerte das Glas in einem Zug.
»Also«, sagte Rebus mit gedämpfter Stimme, »woher kennen Sie denn nun Helena Profitt?«
»Woher die meisten anderen Leute hier sie auch kennen.« Sie lächelte wieder und wandte sich an die Witwe. »Tresa, Schätzchen, was dagegen, wenn ich rauche?«
»Nur zu, Maisie.« Eine Pause. »Das hätte Wee Shug gar nicht anders gewollt. Er qualmte selbst ganz gern.«
Wie auf Kommando griffen da etliche Hände in Jackenund Handtaschen. Päckchen wurden geöffnet und herumgereicht. Rebus nahm von Maisie eine Zigarette an, und sie gab ihm Feuer.
»Hübsches Feuerzeug«, sagte er.
»War ein Geschenk.« Sie warf einen Blick auf das schlanke Feuerzeug aus Onyx und Gold, ehe sie es wieder einsteckte.
»Miss Profitt wohnte also früher ebenfalls in diesem Haus?«, sagte Rebus.
»Eine Etage tiefer.«
Da immer mehr Leute ankamen, um der Witwe ihr Beileid auszusprechen oder aber um sich von ihr zu verabschieden, wurden Rebus und Maisie nach und nach immer weiter vom Fenster und Miss Profitt abgedrängt. Am Ende standen sie vor dem Kaminsims. Rebus nahm eine Beileidskarte und las: »Von allen Kumpels in Saughton. Wir werden Shug nicht vergessen.«
»Rührend«, sagte Maisie Finch.
»Entweder das oder leicht abartig.«
»Wieso das, Inspector?« Ihm fiel auf, dass sie das Wort »Inspector« ziemlich laut aussprach. Die am nächsten stehenden Trauergäste musterten ihn von oben bis unten, und ihm war klar, dass sich die Neuigkeit jetzt rasch herumsprechen würde.
»Hängt davon ab, warum er sich das Leben genommen hat«, antwortete er. »Vielleicht hatte es ja etwas mit Saughton zu tun.«
»Tresa meinte, er hatte Krebs.«
»Das ist lediglich ein möglicher Grund.« Er sah ihr in die Augen. »Ich könnte mir auch andere denken.«
Sie wandte den Blick ab und fragte fast beiläufig: »Zum Beispiel?«
»Schuldgefühle, Scham, Selbstvorwürfe.«
Sie lächelte säuerlich. »Alles Fremdwörter für Shug McAnally.«
»Selbstmitleid?«
»Das käm schon eher hin.«
Rebus sah einen Pillboxhut mit Schleier sich auf die Tür zubewegen. »Bin gleich wieder da«, sagte er.
Als er sie einholte, war Helena Profitt schon an der Wohnungstür.
»Miss Profitt?« Sie drehte sich um. »Ich glaube, wir sollten uns ein wenig unterhalten.«
Er führte sie in das Schlafzimmer der McAnallys.
»Kann das nicht warten?«, fragte sie; sie sah sich um und fühlte sich in der Umgebung sichtlich unwohl.
Rebus schüttelte den Kopf. Der Fernseher war tatsächlich da und ließ ihnen nur eine schmale Gasse. »Sie sind mir
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