Ein eisiger Tod - Ein Inspector-Rebus-Roman
ausgewichen.«
Sie seufzte. »Tom hat mir gesagt, dass er es Ihnen gesagt hat.«
»Sie haben McAnally an dem Abend erkannt?«
»Natürlich.«
»Hat er Sie erkannt?«
Sie nickte. »Mit Sicherheit.«
»Wusste er schon vorher, dass Sie dem Councillor nahe standen?«
Jetzt starrte sie ihn durch ihren Schleier hindurch an. »Was meinen Sie mit ›nahe‹? Ich bin seine Sekretärin, das ist alles.«
»Mehr habe ich auch gar nicht gemeint.«
»Woher hätte er es wissen sollen? Nein, ich glaube nicht, dass er es wusste.« Sie begriff plötzlich, worauf er hinauswollte. »Mit mir hatte sein Selbstmord nichts zu tun!«
»Wir müssen solche Fragen stellen. Warum haben Sie damals nichts gesagt?«
»Ich...« Sie setzte sich auf die Bettkante, stand dann aber sofort wieder auf. Rebus bemerkte, wie die Tagesdecke ein paarmal hin und her schwappte. Es war ein Wasserbett. Verunsichert, rückte Helena Profitt ihren Hut zurecht und zupfte an ihrem Schleier. Viel verschleierte er ja nicht.
»Hat es was mit Maisie Finch zu tun?«, fragte Rebus.
Sie dachte darüber nach und nickte dann feierlich, um sofort in lautes Schluchzen auszubrechen. Rebus berührte ihre Schulter, doch sie wandte sich abrupt ab und riss sich von ihm los. Ein Trauergast öffnete die Tür und schaute herein. Rebus hatte den Eindruck, dass da draußen noch andere Schaulustige standen.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte er und drückte die Tür entschlossen wieder zu. Helena Profitt hatte ein Taschentuch aus dem Ärmel gezogen und putzte sich gerade die Nase. Rebus bot ihr sein Taschentuch an, und sie betupfte sich damit die Augen. Als sie es zurückgab, war Lidschatten auf dem weißen Baumwollstoff zu sehen. Die Tür flog wieder auf. Jetzt war es der Mann mit den roten Hosenträgern.
»Was ist hier los?«
»Nichts«, sagte Rebus.
Der Mann starrte ihn finster an. »Wir wissen, wer Sie sind. Vielleicht sollten Sie besser gehen.«
»Was passiert sonst? Wollen Sie mich rauswerfen?«
Das verschwitzte Gesicht verzog sich zu einem verächtlichen Grinsen. »Ihr Typen seid doch alle gleich.«
»Und ihr Typen ebenfalls.« Rebus stemmte sich gegen die Tür, bis das Schloss einrastete. Er wandte sich wieder zu Helena Profitt.
»Was verschweigen Sie mir?«, fragte er eindringlich. »Früher oder später kommt es ja doch heraus.«
»Ich bin vor vier Jahren aus diesem Haus weggezogen«, sagte sie. »Seitdem war ich nur ein paarmal wieder hier. Ich sollte häufiger kommen. Maisies Mutter vermisst meine Besuche...«
Vor vier Jahren. »Nachdem McAnally Maisie vergewaltigt hatte?«, rief er.
Sie atmete ein paarmal tief durch, um sich zu beruhigen.
»Wissen Sie, wir haben nichts unternommen, keiner von uns. Wir haben alle einen Schrei gehört - ich weiß, dass ich ihn gehört habe -, aber keiner hat die Polizei gerufen. Erst als Maisie in Tresas Wohnung gelaufen kam. Und dann war es Tresa selbst, die anrief und sagte, ihr eigener Mann hätte gerade das Mädchen ihrer Wohnungsnachbarin vergewaltigt. Wir hörten den Schrei, und wir haben uns einfach weiter um unseren Kram gekümmert.« Sie putzte sich wieder die Nase. »Ist das nicht typisch für diese verfluchte Stadt?«
Rebus erinnerte sich an die Worte, die er erst wenige Minuten zuvor gebraucht hatte: Schuldgefühle, Scham, Selbstvorwürfe.
»Haben Sie sich geschämt?«, half er nach.
»Und ob ich das habe. Ich konnte einfach nicht hier wohnen bleiben.«
Er nickte. »Hat es Sie gewundert, dass Maisie geblieben ist, obwohl sie wusste, dass McAnally irgendwann zurückkommen würde?«
Sie schüttelte den Kopf. »Maisies Mum wäre nie von hier weggezogen. Außerdem hatten sich Maisie und Tresa schon immer gut verstanden, erst recht seit der...«
Rebus versuchte sich vorzustellen, wie es sein mochte, aus dem Gefängnis herauszukommen und in eine solche Situation hineinzugeraten. Wie viel näher mochten sich Tresa und die jüngere Frau während McAnallys Abwesenheit gekommen sein?
»Erzählen Sie mir, was an diesem Abend geschah.«
»Was?« Sie steckte das Taschentuch wieder in den Ärmel.
»Am Abend der Vergewaltigung.«
»Was kümmert Sie das?« Ihre Wangen röteten sich vor Zorn. »Das geht Sie überhaupt nichts an. Es ist lange her, längst vergessen.«
»Vergessen, Miss Profitt?« Rebus schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht, das glaube ich ganz und gar nicht.«
Dann wandte er sich von ihr ab und verließ das Zimmer.
Er warf einen Blick ins Wohnzimmer. Rauch hing wie Winternebel in der Luft.
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