Ein eisiger Tod - Ein Inspector-Rebus-Roman
heraus, Rebus hob einen einzelnen auf. Er hatte die Länge eines DIN-A4-Blattes und war höchstens zwei Millimeter breit. Man sagte, dass es möglich sei, geschredderte Dokumente wieder zusammenzusetzen. Mehr als Geduld sei dazu nicht nötig: unendliche Geduld. Er war sicher, dass es dazu alle möglichen trickreichen Methoden gab - UV-Analyse, Wasserzeichenabgleichung oder Stoßsortierung -, aber er verfügte über nichts anderes als seine Augen. Er konnte schließlich nicht in Howdenhall reinspazieren und das Zeug einfach abladen. Es hätte zu viele Fragen gegeben. Er setzte sich auf den Boden, nahm ein paar Streifen in die Hand, und versuchte, sie zusammenzusetzen.
Er brauchte ungefähr vier Minuten, um einzusehen, dass dies eine unlösbare Aufgabe war.
Er zündete sich eine Zigarette an und starrte auf die Papierschnipsel. Sie hätten ihm alles verraten, was er wissen musste. Er rauchte die Zigarette zu Ende, goss sich einen Drink ein und versuchte es dann noch einmal. Nach einer Weile verlor er die Geduld. Er schleppte den Küchenstuhl herein und setzte sich darauf. Dann holte er die Gelenkleuchte aus dem Schlafzimmer und schloss sie an. Der Aktenvernichter hatte geklemmt; es bestand immerhin die Chance, dass nicht alle Streifen vollständig voneinander getrennt worden waren.
Er fand nicht einmal zwei Streifen, die noch an irgendeiner Stelle zusammengehangen hätten.
Er fluchte eine Zeit lang und drehte ein paar Runden durch die Wohnung, leerte das Kaffeeglas und stellte es wieder unter den Radiator, dann zog er den Mantel an und ging aus dem Haus, um Zigaretten und Whisky zu besorgen. Aber der Laden an der Ecke war geschlossen. Nach Rebus’ Uhr war es Viertel nach elf; er konnte nicht glauben, dass es schon so spät war.
Er ging weiter bis zum nächsten Pub und schob sich durch die qualmende, grölende Menge. Die Bardame gab ihm Kleingeld für den Zigarettenautomaten, durfte ihm aber keine Flasche zum Mitnehmen verkaufen: Es war schon nach der Polizeistunde. Sie nannte ihm ein Fish-and-Chips-Lokal mit Schankkonzession, aber da hätte er das Auto gebraucht, also ging er rasch nach Hause zurück und sah seinen Flaschenbestand durch. Es gab eine Viertelflasche Bacardi als eiserne Ration für den Fall, dass er es jemals schaffen sollte, eine Frau ins Schlafzimmer zu kriegen. Der Gedanke an Bacardi pur ekelte ihn nur geringfügig mehr an als die Vorstellung, das Zeug mit was auch immer zu mixen.
Woraus folgt, dachte er, dass ich kein Alkoholiker sein kann.
Er öffnete trotzdem die Flasche und schnüffelte daran, dann schraubte er sie wieder zu. Dazu hätte er schon ein ganzes Stück verzweifelter sein müssen... aber so gegen vier Uhr früh konnte er es ja noch mal probieren. Dann fiel ihm der Kühlschrank ein. Er öffnete ihn und hackte so lange auf das Eis ein, bis er zwei Eiswürfelschalen zutage gefördert hatte, ein einzelnes Fischstäbchen... und eine kleine Flasche polnischen Wodka; den hatte ihm ein Nachbar von seinem Heimaturlaub in Lodz mitgebracht; ein Dankeschön dafür, dass er eine Woche lang die Katze gefüttert hatte.
Rebus holte sich ein Glas, goss es voll und brachte einen verspäteten Toast auf die Solidarność aus, bevor er es in einem Zug leerte. Das Zeug lief butterweich die Kehle hinunter. Ein Drittelliter Achtundvierzigprozentiger. Er nahm Glas und Flasche mit ins Wohnzimmer und legte Exile on Main Street auf. Es klang so gut wie eh und je.
Er machte sich wieder ans Puzzeln, beschloss aber, den ersten Sack sein zu lassen und sich den zweiten vorzunehmen. Er stopfte den ersten wieder voll und kippte den Inhalt von Sack Nummer zwei auf dem Boden aus.
Und dann klingelte es an der Tür.
Es war kurz nach Mitternacht.
Manchmal blieb die Haustür unten offen. Da brauchten Besucher, ob willkommen oder nicht, sich nicht eher bemerkbar zu machen, als bis sie vor der betreffenden Wohnungstür standen.
Zu dieser Uhrzeit? Und das donnerstagnachts?
Rebus warf einen Blick auf den Saustall auf seinem Fußboden, ging dann hinaus in den Flur und schlich sich an die Tür, gerade als es zum zweiten Mal läutete. Er konnte wenigstens zwei Stimmen hören, eigentlich nicht mehr als Gemurmel. Plötzlich stießen Finger seinen Briefschlitz auf. Rebus stellte sich, den Rücken an der Wand, neben die Tür.
»Kann ja sein, dass er das Licht anlässt, wenn er aus dem Haus geht.«
»Ja, vielleicht hat er sich aber auch abgefüllt und schläft jetzt seinen Rausch aus.«
Rebus zog den Riegel leise
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