Ein Ende des Wartens
dass ihre Hand immer noch im Briefkastenschlitz steckte und zog sie unbedacht und ruckartig heraus. Der Schmerz, der ihre Hand im nächsten Augenblick durchfuhr, ließ sie erzittern. Ihre gesamte Hand war übersät mit Rillen und Hautquetschungen; es sah aus, als wäre ein Auto im langsamen Tempo über die Hand gefahren. Sie massierte ihre Handflächen und schaute nach der alten Frau, von der nichts mehr zu sehen war.
Erst nach einer Weile kamen ihr Tammy und die Fahrt zur Ostsee zurück in den Sinn. Annika drehte sich zum Mercedes um, stieg langsam ein und prüfte, ob sie mit der schmerzenden Hand fahren konnte. Da es ging, startete sie den Motor und dachte die ganze Fahrt darüber nach, ob es nun richtig oder falsch gewesen war, den Brief an Marco abzuschicken – und wie groß die Wahrscheinlichkeit schien, dass der Brief auf seinem langen Weg nach Afrika vielleicht verloren ging. Sie konnte auch noch eine schnelle Meldung hinterherschicken, die vielleicht vor dem eigentlichen Brief ankommen würde, in der sie Marco erklären konnte, dass sie den Brief in einem Moment der absoluten Traurigkeit geschrieben hatte und dieser nicht der Wahrheit entspräche.
Doch dann schüttelte sie diese Gedanken aus ihrem Kopf und bog in die Straße ein, in der Tammy mit ihrer Mutter Carmen wohnte. Annika parkte den Benz direkt vor dem kleinen Mietshaus und sah, dass bei Tammy kein Licht brannte – dafür aber bei Carmen. Daher klingelte Annika auch unten bei der Mutter, und prompt wurde die Türe aufgerissen, aus der Tammy ihrer Freundin entgegengestürzt kam.
Sie sei ja so aufgeregt, piepste Tammy und nahm die verdutzte Annika in ihre Arme. Annika hatte sich gar nicht auf die stürmische Begrüßung vorbereitet und brauchte einen Moment, ehe sie ihre Arme um ihre Freundin schlang, die ihr weiter ins Ohr piepste, wie sie sich auf diesen Kurzurlaub freuen würde. Annika wisperte, dass auch sie sich freue, der Urlaub aber nur zustande käme, wenn Tammy sie jetzt losließe, da sie sonst keine Luft mehr bekam. Schlagartig ließ Tammy sie los und schaute geschockt, ehe sie merkte, dass Annika ein bisschen übertrieben hatte. Nun entdeckte Annika auch Carmen, die am Türrahmen der Küche lehnte, die vom Flur aus nach rechts führte.
Im Flur standen zwei Koffer, und es sah aus, als würde Tammy drei Wochen in ein Land fliegen, in dem es vielleicht nicht mal fließend Wasser gab.
Was sie denn alles eingepackt habe, wollte Annika erstaunt von ihrer Freundin wissen.
Man könne ja nie wissen, was dort oben los sei, konterte Tammy und zählte die Eventualitäten auf: Rumhängen, am Strand liegen, abends ausgehen, im Meer baden, ganz normal durch die Stadt laufen – und wenn man zu jedem Outfit die passenden Schuhe und Accessoires dazurechnete, dann kamen halt zwei Koffer zusammen. Was aber doch kein Problem sein dürfte, meinte Tammy, denn im Benz sei doch wohl genügend Platz.
Schon, antwortete Annika knapp, schüttelte ihren Kopf und überstieg die Kante des einen Koffers, um sich von Carmen umarmen zu lassen.
Sie sei ja so aufgeregt, flüsterte Carmen Annika ins Ohr und drückte ihr gleichzeitig einen Kuss auf die Wange. Dass die beiden Mädels so spontan ans Meer fahren würde, ach, das würde sie ja gar nicht von ihnen kennen. Und wie sie das an ihre eigene Jugend- und Rebellinnenzeit erinnern würde, in der es keine Regeln zu geben schien, und es sein konnte, dass man heute hier und morgen dort war, ohne zu wissen, mit wem man überhaupt von dem einen Ort zu dem nächsten gekommen war – und was das nächste Ziel sei. Diese Art der Freiheit vermisse sie und umso mehr konnte sie über diesen Entschluss freuen.
Sie setzten sich zu dritt in die Küche, und Carmen erzählte von ihren wilden Zeiten, und wie sie aus diesen ins normale Leben hinauswuchs, Tammy bekam und mit jedem Jahr ruhiger und sanfter im Leben wurde. Trotz ihrer Ruhe und Sanftheit war Carmen nach dem provozierten Auszug von zu Hause so etwas wie Annikas zweite Mutter geworden, und Annika hörte sehr genau zu, was Carmen von ihrer Jugendzeit berichtete – denn ihre eigentliche Mutter hatte nie so selbstkritisch über diese Zeit gesprochen. Nein, im Grunde hatte ihre Mutter nie über die eigene Zeit des Heranwachsens gesprochen. Zumindest nicht mit Annika. Bei Gelegenheit würde sie mal mit Erik darüber sprechen, ob ihre Mutter ihm etwas aus ihrer Jugendzeit erzählt hatte.
Das war einer der schmerzhaftesten Punkte an dem Zusammenleben mit ihrer Mutter gewesen:
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