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Ein endloser Albtraum (German Edition)

Ein endloser Albtraum (German Edition)

Titel: Ein endloser Albtraum (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Marsden
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Herzen zum Papier. Er ist mein wichtigster Besitz.
    Dennoch ist es eine Ewigkeit her, seit ich zuletzt geschrieben habe. Seit der Nacht nicht mehr, als Kevin mit Corrie davonfuhr, die schwer verletzt und bewusstlos auf dem Rücksitz des Mercedes lag. Ich weiß noch, dass ich danach dachte, wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich wissen wollen, ob sie es bis zum Krankenhaus geschafft haben und gut behandelt wurden. Wenn ich zwei Wünsche frei hätte, würde ich wissen wollen, wie es meinen Eltern geht, die im Rinderpavillon auf dem Veranstaltungsgelände der Landwirtschaftsmesse interniert sind. Hätte ich drei, würde ich mir wünschen, dass es allen Menschen auf dieser Welt, einschließlich mir selbst, einigermaßen gut geht.
    Seit Kevin und Corrie fort sind, ist viel passiert. Homer berief ein paar Wochen später eine Versammlung ein. Wir standen immer noch unter Hochspannung und vielleicht war der Zeitpunkt für eine Versammlung nicht gerade günstig, vielleicht waren wir aber auch schon zu lange untätig herumgesessen. Ich dachte zuerst, wir würden viel zu deprimiert sein, um reden oder Pläne schmieden zu können, aber wie schon so oft hatte ich Homer gründlich unterschätzt. Er dachte über so vieles nach – nicht dass er es selbst je erwähnte, aber man merkte es ganz deutlich an der Art und Weise, wie er bei der Versammlung sprach. Es hatte eine Zeit gegeben, als ein Homer, der sich Gedanken macht, so unwahrscheinlich schien wie ein fliegendes Schnabeltier, und ich gewöhnte mich erst langsam an die Veränderung. Aber an dem Tag, als wir uns wieder beim Bach versammelten, bewies er uns mit seinen Worten, dass er im Gegensatz zu manchen von uns nicht bereit war seiner Niedergeschlagenheit nachzugeben.
    Er lehnte an einem Felsblock, die Hände tief in den Taschen seiner Jeans vergraben. Er wandte uns sein dunkles, ernstes Gesicht der Reihe nach zu, richtete den Blick seiner braunen Augen kurz auf jeden von uns, als wollte er sich genau anschauen, was er da sah. Als Ersten sah er Lee an, der ein paar Meter entfernt am Ufer des Bachs saß und ins Wasser starrte.
    Lee hielt einen Zweig in den Händen, brach ihn langsam entzwei und ließ die kleinen Stückchen ins Wasser fallen und mit der Strömung davonschwimmen. Jedes Mal wenn ein Stückchen im sprudelnden und gurgelnden Wasser zwischen den Felsen verschwunden war, wiederholte er den Vorgang. Er blickte nicht auf, und wenn er es getan hätte, wäre in seinem Blick nur Trauer zu sehen gewesen. Ich hielt das fast nicht aus. Ich wünschte mir, ich könnte diesen Blick fortjagen, wusste aber nicht, wie.
    Chris saß Lee gegenüber und schrieb in sein Notizheft, das auf seinen Knien lag. Er schien mehr in diesem Heft zu leben als unter uns. Er sprach nicht mit ihm – wenigstens nicht hörbar –, aber er nahm es mit in seinen Schlafsack und zu jeder Mahlzeit und bewachte es eifersüchtig vor Schnüfflern wie mir. Ich glaube, er schrieb immer noch hauptsächlich Gedichte. Es hatte eine Zeit gegeben, als er mir alles zeigte, doch nachdem er gelesen hatte, was ich über ihn schrieb, war er so beleidigt gewesen, dass er seither kaum noch mit mir sprach. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich so Schlimmes über ihn gesagt hatte, aber er sah das anders. Außerdem mochte ich seine Gedichte ja, auch wenn ich nicht immer alles verstand. Mir gefiel der Klang der Worte.
    In der Kälte der Nacht dröhnt das Brummen der Laster
    Auf der Straße in die Hoffnungslosigkeit
    Keine Sonne scheint und keine Sterne strahlen
    Nirgends flattert eine Fahne im Wind
    Die Männer marschieren mit gesenkten Häuptern
    In ihren Herzen keine Liebe mehr.
    An diese Stelle konnte ich mich noch erinnern.
    Neben mir saß Robyn, der stärkste Mensch, dem ich je begegnet bin. Mit Robyn schien etwas ganz Besonderes passiert zu sein. Je länger dieser Albtraum anhielt, umso gelassener schien sie zu werden. Als das Unglück mit Corrie und Kevin geschah, war sie genauso verzweifelt gewesen wie wir alle, doch dann wurde sie mit jedem Tag ruhiger. Sie lächelte oft, und häufig galt ihr Lächeln mir, wofür ich ihr dankbar war. Nicht jeder lächelte mich in diesen Tagen an. Als ich in einer unserer gefährlichsten Situationen mit neunzig Stundenkilometern durch den Kugelhagel raste, hatte mich Robyn mit ihrem Mut bei Verstand gehalten. Wäre ich allein gewesen, ich wäre wahrscheinlich auf den Pannenstreifen ausgewichen und hätte zugelassen, dass mich die feindlichen Fahrzeuge überholten. Oder ich

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