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Ein endloser Albtraum (German Edition)

Ein endloser Albtraum (German Edition)

Titel: Ein endloser Albtraum (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Marsden
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und den neuen Lichteinfall, der quer über dem Bett lag, fand ich Corrie wieder. Da war sie ja; ihre weiche Haut, ihr rundes Gesicht, ihre geschlossenen Augen. Mein eigener Mund stand vor Verwunderung leicht offen, denn sie sah so anders aus als die Corrie, mit der ich befreundet war, und so anders als die Corrie meiner schlimmsten Befürchtungen. Sie sah nicht abgezehrt und auch nicht verletzt oder geschlagen aus, aber auch nicht glücklich und lebendig und gesprächig. Sie sah aus wie eine Wachspuppe, ein vollkommener und formvollendeter Abdruck Corries. Ihre Lippen bewegten sich mit jedem Atemzug, das war aber die einzige sichtbare Bewegung. Sie war am Leben, aber irgendwie nicht mehr bei uns.
    Ich hatte keine Angst vor ihr, aber ich hatte Angst, sie anzufassen. Ich hatte vorgehabt Ms Slater zu fragen, ob ich sie berühren dürfe, ob das sicher war, aber jetzt war dieser Gedanke wie weggeblasen. Nach einer Weile beugte ich mich vor und strich mit der Spitze meines zitternden Fingers über ihre rechte Wange. Das war nicht die Corrie, die ich umarmt, an die ich mich angelehnt und mit der ich mich gebalgt hatte, die Corrie, die im überfüllten Schulbus so oft auf meinem Schoß gesessen hatte. Die Corrie, die ich kannte, hatte sich in aller Stille auf und davon gemacht und diesen friedlich atmenden, bleichen Ersatz zurückgelassen. Ich beugte mich noch ein wenig weiter vor und küsste sie auf die Stirn, dann legte ich meinen Kopf neben ihren auf das Kissen. Ich sagte kein Wort. Und auch mein Kopf war seltsam leer. Ihre Haut fühlte sich kühl an, doch nicht einmal das fiel mir in dem Moment auf, daran dachte ich auch erst später. Durch ihre Wange, die an meiner lag, konnte ich sie atmen spüren. So blieb ich eine ganze Weile, eine lange Weile.
    Schließlich erhob ich mich und flüsterte ihr ins Ohr: »Pass gut auf dich auf dort draußen, Corrie. Gib bloß acht auf dich.« Dann verließ ich das Zimmer, ohne mich von Ms Slater zu verabschieden, und wartete draußen auf Lee.
    Da es eine Weile dauerte, bis Lee herauskam, versteckte ich mich hinter einem Wäschekorb. Als er endlich kam, stand ich auf und kehrte in Zimmer B8 zurück, um mich von Nell zu verabschieden.
    »Alles in Ordnung, Liebes?«, fragte sie. »Hat es dich auch nicht zu sehr mitgenommen?« Anstatt zu antworten, stellte ich ihr eine Frage, die mich beschäftigt hatte: »Wissen Sie noch, wie Sie vorhin gesagt haben, dass es Kevin jetzt wieder gut geht?«
    »Hab ich das?«
    »Ja. Was meinten Sie mit jetzt ?«
    Sie suchte offenbar nach einer Notlüge, es fiel ihr aber keine ein. Nach kurzem Schweigen gab sie es auf und sagte mir die
    Wahrheit.
    »Sie haben ihn ziemlich zugerichtet, Ellie.«
    Wir schlichen den Flur entlang in Richtung Ausgang. Nell hatte uns gesagt, wo die Soldaten sein würden – im Schwesternzimmer nicht weit vom Ausgang. Als wir uns in der kleinen Küche, ungefähr zwanzig Meter davon entfernt, versteckten, packte ich Lees Kopf und zog ihn zu mir herunter, damit ich ihm ins Ohr flüstern konnte: »Ich will ein Messer suchen.«
    »Wozu?«
    »Damit ich die Soldaten umbringen kann.«
    Ich spürte, wie er zusammenzuckte, als hätte er einen elektrischen Schlag abbekommen. Zunächst erwiderte er gar nichts, er richtete sich nur gerade auf, während ich weiterhin wie das Tier, zu dem ich geworden war, neben ihm hockte. Dann beugte er sich wieder zu mir herunter und flüsterte mit den Lippen an meinem Ohr: »Das geht nicht, Ellie.«
    »Warum nicht?«
    »Sie würden sich an den Patienten rächen.«
    Danach sprachen wir nichts mehr und warteten. Wir warteten darauf, dass die Soldaten ihre Routine unterbrachen und sich eine Gelegenheit bot, unbemerkt an ihnen vorbeizukommen. Ab und zu konnten wir hören, wie sie sich in ihrer heiseren, aus der Kehle kommenden Sprache unterhielten. Ihre Stimmen klangen ein wenig wie wehklagende Musik, was auf eine gewisse Weise sogar schön war. Zwischendurch konnten wir auch die Stimme eines Mädchens hören, tief und rau, fast immer lachend, und dann auch einzelne Worte, die englisch klangen, sich aber wegen ihrer tiefen Stimme nicht unterscheiden ließen. Nach allem, was Nell uns erzählt hatte, hegte ich bei der Vorstellung, was dieses Mädchen gerade tat, den schlimmsten Verdacht und verfluchte sie in der Dunkelheit unseres Verstecks.
    Ein Soldat kam auf dem Weg zur Toilette an unserem Versteck vorüber, da wir aber keine Ahnung hatten, wo der andere war, wagten wir uns nicht hervor. Das war um 3.45 Uhr. Nach

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