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Ein endloser Albtraum (German Edition)

Ein endloser Albtraum (German Edition)

Titel: Ein endloser Albtraum (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Marsden
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an der Grenze. Als Lee seinen Arm um mich legte, drehte ich mich um und schmiegte mein Gesicht an seine Brust. Ich weinte nicht, aber ich war ihm dankbar für seine Umarmung und sein stilles Verständnis. Tief in seinem Inneren schien ein Ort zu sein, den ich, glaube ich, nicht besaß. Vielleicht kam da seine Musik her. Es spielte auch keine Rolle, was für ein Ort es war; ein paar Sekunden lang verband ich mich mit ihm und schöpfte ein wenig Kraft. Es war wie eine Bluttransfusion.
    »Gehst du zuerst?«, bat ich ihn, nachdem ich mich aus seiner warmen und beruhigenden Umarmung gelöst hatte.
    Er ließ mich los und öffnete die Tür. Er trat ein und hielt die Tür für mich auf. Ich schlüpfte in die Dunkelheit des Zimmers. Eine ängstliche Stimme krächzte: »Wer ist da?« Einen Augenblick dachte ich, Corrie hätte gesprochen, und hielt den Atem an. Ich dachte ein Gespenst zu hören oder dass ein Wunder geschehen war und Corrie plötzlich das Bewusstsein wiedererlangt hatte. Dann fiel mir Ms Slater ein.
    »Ich bin es, Ms Slater. Ellie. Und Lee ist auch hier.«
    »Ach, Ellie! Lee!« Sie sprang auf und stieß dabei etwas um.
    Wir kannten Ms Slater ganz gut. Sie gehörte zu den Menschen, die es schaffen, in einem Vierundzwanzigstundentag sechsunddreißig Stunden unterzubringen. Ihr Mann war vor Jahren bei einem Traktorunfall ums Leben gekommen und seither hatte sie die Farm alleine betrieben, ihre Kinder großgezogen, zwei Bücher über Gartenbau geschrieben, Kalligrafie und das Anfertigen von Steppdecken erlernt und ein halbes Kunststudium absolviert. Außerdem fand sie noch Zeit, um in der Schulkantine auszuhelfen; ihr Jüngster, Jason, war im zehnten Schuljahr.
    Einmal hatte sie zu mir gesagt: »Auf dieser Welt gibt es zwei Arten von Menschen, Ellie. Die einen, die vor dem Fernseher sitzen, und die anderen, die etwas zu Stande bringen.«
    Jetzt umarmte sie mich so innig, dass ich die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Es war lange her, seit ich zuletzt geweint hatte. Sie war die erste Erwachsene, die ich kannte, die erste, die mich in die Arme nahm, und die erste, die eine Verbindung zu meiner alten, geliebten, glücklichen Welt herstellte. Sie war auch die erste Verbindung zu meinen Eltern, denn sie und Mum waren gute Freundinnen.
    »Ach Ellie«, sagte sie. »Meine arme Kleine. Und wie furchtbar du riechst.«
    »O Ms Slater!« Ich musste lachen und versetzte ihr einen kleinen Klaps auf den Arm. Dann umarmte sie Lee.
    Wir lebten schon so lange zusammen, dass es uns wahrscheinlich gar nicht mehr auffiel, wie übel wir rochen. Wir badeten regelmäßig im Bach, aber weil das Wasser in letzter Zeit immer kälter geworden war, waren unsere Bäder seltener geworden.
    »Macht euch keine Sorgen«, sagte sie. »Auf dem Messegelände stinken die Leute noch ärger. Viel ärger. Wir Patienten dürfen jeden zweiten Tag duschen, da vergisst man das.«
    Ich hörte ihr nicht mehr zu. Ich hatte mich dem Bett zugewandt, in dem Corrie so still dalag. Der einzige Lichtschein im Zimmer kam durch das Fenster vom Parkplatz. Man konnte sehen, wo die Scheibe durch das Kondenswasser beschlagen war. Im Zimmer herrschte ein Halbdunkel wie in einer Kirche am späten Nachmittag, kurz bevor die Lichter aufgedreht werden. Die Dinge, die man ausmachen konnte, waren entweder sehr dunkle oder sehr helle Gegenstände. Eine Schranktür sah aus wie eine dunkle Narbe in der Wand. Das Nachtkästchen war eine weiße Gestalt, die neben Corries
    Bett hockte und Wache hielt. Das Bett wirkte sehr hell. Das
    Laken, mit dem Corrie zugedeckt war, strahlte wie ein sanfter Lichtschein. Ihr Kopf auf dem Kissen war ein kleiner dunkler Fleck, ein unbeweglicher runder Stein. Ich konnte ihre Gesichtszüge nicht sehen. Ich bemühte mich ihre Augen, ihre Nase, ihren Mund zu sehen. Da mir das nicht gelang, bekam ich plötzlich Angst vor diesem dunklen Fleck, ganz so, als wäre er nicht menschlich, als gehörte er überhaupt nicht zu Corrie. Während ich angestrengt spähte, bekämpfte ich die Angst in meinem Bauch, damit sie nicht in meinen Rachen kroch und in meinen Mund gelangte. War das ihr Mund oder nur ein Schatten? Waren das ihre Augen oder nur schwarze Tupfer, ein Streich, den das Licht mir spielte? Lee und Ms Slater hatte ich vergessen. Sie waren nicht mehr im Zimmer, sie hatten aufgehört zu existieren. In diesem Moment existierten nur noch ich und diese Gestalt im Bett. Langsam machte ich drei Schritte auf sie zu. Und plötzlich, durch den anderen Winkel

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