Ein endloser Albtraum (German Edition)
Dinge über dich und Homer geschrieben habe?«
»Nein! Natürlich nicht! Es war nur ein Schock, als ich es las, das ist alles. Dein Problem ist, dass du zu ehrlich bist, das war der Schock. Du hast Dinge aufgeschrieben, die die meisten Menschen zwar denken, aber niemals aussprechen würden. Sie schreiben sie vielleicht in ihr Tagebuch, aber herzeigen würden sie es niemals.«
»Aber du und Homer, ihr seid immer noch nicht so wie vorher.«
»Nein. Ich glaube aber nicht, dass es damit zu tun hat, was du geschrieben hast. Er ist so schwierig. Es gibt Tage, an denen er liebevoll und süß ist, und dann gibt es Tage, an denen ich Luft für ihn bin. Es ist sehr frustrierend.«
Anscheinend sollte ich an diesem Tag gleich mehrere bedeutsame Gespräche führen. Vielleicht lag es daran, dass wir wieder aktiv wurden und deshalb jeder das Bedürfnis hatte zu reden. Das letzte Gespräch führte ich mit Chris und es erwies sich als sogar noch schwieriger als das mit Homer. Ich ging zum Bach hinunter, weil ich mich schuldig fühlte, ihn in letzter Zeit vernachlässigt zu haben. Je verschlossener er wurde, umso bewusster ging ich ihm aus dem Weg. Alle taten das. Und ich denke, das machte es nur noch schlimmer für ihn. Die heilige Ellie beschloss also die Dinge wieder ins Lot zu bringen und wenigstens einmal etwas Gutes zu tun.
Er saß auf einem Felsen und starrte auf seinen linken nackten Fuß. Einen Moment lang konnte ich nicht sehen, was ihn so beschäftigte, doch dann bemerkte ich auf seiner Haut eine böse schwarze Schwellung; sie sah aus wie eine längliche hässliche Blutblase. Ich blickte hin, dann noch einmal und sah voller Entsetzen, dass es ein Blutegel war. Chris saß völlig unbeteiligt da und schaute zu, wie er sich mit seinem Blut langsam dick und fett soff.
»Pfui, wie ekelhaft«, stieß ich hervor. »Wieso machst du das?«
Er zuckte die Achseln. »Zum Zeitvertreib.« Er blickte nicht einmal auf.
»Nein, ernsthaft. Wieso?«
Er machte sich nicht die Mühe zu antworten. Der Blutegel wurde immer größer und schwärzer. Seine Gegenwart machte ein Gespräch fast unmöglich. Ich konnte meinen Blick nicht abwenden. Aber ich versuchte es.
»Vergisst du auch nicht, hinter dem flachen Felsen nach Eiern zu suchen? Blossom legt ihre manchmal dorthin.«
Blossom war eine deprimiert aussehende rote Henne, die bei den anderen Hühnern nicht gerade beliebt war.
»Klar.«
»Was wirst du tun, während wir fort sind?«
»Weiß nicht. Wird sich schon was finden.«
»Chris, ist alles in Ordnung? In letzter Zeit bist du so verschlossen, als wärst du ganz woanders. Bist du sauer auf uns? Stört dich irgendwas?«
»Nein, nein. Mir geht's gut.«
»Aber wir haben doch sonst immer miteinander gesprochen. Das waren tolle Gespräche. Wieso tun wir das nicht mehr?«
»Weiß nicht. Es gibt nichts zu reden.«
»Es passiert so viel. Wir sind mitten in der größten Sache unseres Lebens – so vieles ist anders geworden.«
Wieder zuckte er nur mit den Achseln, ohne den Blick von dem ekelhaften dicken Ding auf seinem Fuß zu heben.
»Ich würde gern wieder einmal was von deinen Gedichten sehen.«
Wieder gab er mir keine Antwort, er starrte nur unentwegt auf den Blutegel. Schließlich sagte er: »Ja, ich fand das schön, was du darüber geschrieben hast.« Dann, als führte er ein Selbstgespräch, fügte er hinzu: »Vielleicht sollte ich dir was zeigen. Vielleicht, vielleicht auch nicht.«
Er drehte sich um und griff nach seiner Jacke, die hinter mir auf einem Felsen lag. Mechanisch hob ich sie auf und reichte sie ihm und erst jetzt nahm ich wieder diesen abgestandenen süßen Geruch nach Alkohol wahr. Also hatte er doch noch irgendwo einen geheimen Vorrat. Er holte eine Schachtel Streichhölzer aus der Jacke. Mich schien er gar nicht mehr wahrzunehmen. Ich fühlte mich leer und mutlos. Nach meinem Gespräch mit Fi war meine Stimmung besser gewesen, jetzt war das aber wieder wie weggeblasen. Ich hörte Robyn, die nach mir rief; unsere Expedition konnte losgehen.
»Na ja, bis dann«, sagte ich zu Chris. »Wir sehen uns in ein paar Stunden oder ein paar Tagen.«
Ich erhielt keine Antwort. Langsam ging ich den Hügel hinauf, nahm meinen Rucksack und begab mich zu der Stelle, wo der Bach im Dickicht verschwand, dem Ausgangspunkt
zur Hütte des Einsiedlers und darüber hinaus. Fi und Homer
und Lee waren bereits dort; nur Robyn hatte auf mich gewartet. Ich zog meine Schuhe und Socken aus. Wir hatten uns auf einen Kompromiss
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