Ein endloser Albtraum (German Edition)
war nicht sicher, ob wir gerade Chris zurücklassen sollten. Er wurde immer mehr zum Einzelgänger, schrieb in sein Notizheft oder saß irgendwo ganz allein und starrte die Steilwände an. Das Bier, das wir bei den Kings gefunden hatten, hatte er, glaube ich, ausgetrunken, denn ich konnte es nirgends finden und Lee meinte, er wisse auch nicht, wo es hingekommen sei. Grog war, soviel ich wusste, auch keiner mehr da und vielleicht war er deshalb so schlechter Laune. Ab und zu wurde er aktiv – er baute zum Beispiel einen großen und soliden Holzschuppen, wo wir unser Feuerholz im Trockenen lagern konnten. Dafür brauchte er drei Tage und er ließ sich von niemandem dabei helfen. Kaum war er damit fertig, fiel er wieder in seine Untätigkeit zurück.
Wenn wir bis Risdon durchkamen, würden wir mehrere Nächte fort sein, also packten wir unsere Rucksäcke und nahmen die Schlafsäcke, warme Pullis und wasserdichte Jacken mit. Anstelle der Zelte entschieden wir uns für ein paar Außenzelte und Bodenmatten, die leichter und für unsere Zwecke ausreichend waren.
Als es darum ging, wie wir durch den Bach gehen sollten, kam es zu einem großen Streit. Homer, der langsam seine übliche Selbstsicherheit wiederfand, meinte, wir sollten Schuhe tragen, weil wir dann nicht so leicht auf den Steinen ausrutschen würden. Ich war dafür, barfuß zu gehen, damit unsere Schuhe trocken und warm waren, wenn wir am Ende des Bachs anlangten. Das Herbstwetter hatte eingesetzt und keiner von uns fand den Gedanken an den langen Marsch durch das kalte Wasser sehr reizvoll.
Dieser Streit hatte schließlich die Auseinandersetzung zur Folge, die längst fällig war: dass Homer bei dem Hinterhalt auf der Buttercup Lane bewaffnet gewesen war.
Es fing damit an, dass Homer mit seiner typischen Sturheit meinte: »Macht, was ihr wollt, ich behalte meine Schuhe an.«
Ich sagte: »Na wunderbar. Und wenn du Blasen bekommst? Dann dürfen wir dich auch noch tragen, wie? Homer, wenn wir nicht auf unsere Füße aufpassen, sind wir zu nichts zu gebrauchen.«
»Ja, Mutter«, erwiderte er und blitzte mich mit seinen braunen Augen an.
Seit ich Homer kenne, weiß ich, dass ich ihm unter keinen Umständen nachgeben darf, weil ich dann verspielt hätte. Er ist stark, und sobald er merkt, dass er andere einschüchtert, verliert er jede Achtung vor ihnen, weil sie sich nicht gegen ihn zur Wehr setzen und somit schwach sind. Deshalb gebe ich bei ihm nie nach und ich tat es auch diesmal nicht.
»Es ist doch seltsam, aber immer wenn ich sage, was meiner Meinung nach richtig ist, machst du eine ätzende Bemerkung wie ›Ja, Mutter‹. Wenn aber umgekehrt du etwas anschaffst, erwartest du, dass alle parieren. Du bist doch nicht etwa eine Spur sexistisch, Homer?«
Ebenso gut hätte ich einen Fisch fragen können, ob er eine Spur nass ist.
»Ellie, du erträgst es einfach nicht, wenn du dich nicht bei jeder Kleinigkeit durchsetzt ...«
»Ach nein? Und wann habe ich mich zuletzt durchgesetzt?«
»Das fragst du mich? Wie wär's mit heute Morgen beim Frühstück, als du Chris angeschnauzt hast, weil er ein Feuer machen wollte? Wie wär's mit vor zwei Stunden, als du Lee nicht erlaubt hast eine Dose Pfirsiche aufzumachen?«
»Ja. Und fällt dir nichts dabei auf? Ich versuche das Richtige zu tun, in unserem Sinn, im Sinn der Gruppe! Ich versuche uns am Leben zu halten! Wenn jemand sieht, dass hier Rauch rauskommt, sind wir erledigt. Wenn wir das Essen bloß in uns reinstopfen, kommen wir nicht über den Winter. Ich sag doch diese Dinge nicht, weil ich mir damit selbst einen Gefallen tue oder weil ich mir selber so gerne zuhöre.«
»Du solltest auch mal auf andere hören, Ellie. Du wärst am liebsten eine Einmannshow.«
Jetzt platzte mir der Kragen.
»Da irrst du dich aber gewaltig! Eine Einmannshow wollte ich nie sein; dann schon eher eine Einfraushow. Damit bestätigst du nur, was ich vorhin gesagt habe. Im Übrigen hast gerade du gut reden. Du bist der Idiot, der heimlich die Schrotflinte abgesägt und mitgenommen hat, obwohl wir uns darauf geeinigt hatten, dass wir keine Feuerwaffen anrühren würden. Du hast uns alle in Lebensgefahr gebracht, Homer, indem du deine Einmannshow durchgezogen hast, und zwar kaltblütig. So etwas habe ich nie gemacht. Du bist so sicher, dass du immer Recht hast, dass es dich einen Dreck kümmert, was jemand anderer denkt.«
»Und ich hatte Recht – oder etwa nicht? Ohne die Waffe wären Chris und ich jetzt tot. Wir alle könnten
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